Die Kino-Kritiker

«Die Wütenden - Les Misérables» - Nicht wie das Musical

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Er konnte sich selbst gegen den Kritikerliebling «Porträt einer jungen Frau in Flammen» durchsetzen und geht nun für Frankreich ins Oscar-Rennen um den Award für den besten fremdsprachigen Film: Ladj Lys «Die Wütenden».

Filmfacts: «Die Wütenden»

  • Start: 23. Januar 2020
  • Genre: Drama
  • FSK: 12
  • Laufzeit: 102 Min.
  • Kamera: Julien Poupard
  • Buch: Ladj Ly, Giordano Gederlini, Alexis Manenti
  • Regie: Ladj Ly
  • Darsteller: Damien Bonnard, Alexis Manenti, Djibril Zonga, Issa Perica, Al-Hassan Ly, Steve Tientcheu, Almamy Kanouté
  • OT: Les Misérables (FR 2019)
Victor Hugo schrieb in „Die Elenden“ (im Original: „Les Misérables“) über den Zustand der französischen Gesellschaft zu Zeiten der Herrschaft Napoleons bis hin zu der von König Louis Philippe, der im Jahr 1830 an die Macht kam. Sein Roman umfasst eine Zeitspanne von insgesamt 17 Jahren, von 1815 und 1832. Die wohl bekannteste Adaption des Dramas ist bis heute die des Musicals, das Claude-Michel Schönberg und Alain Boublil erstmals am 17. September 1980 in Paris uraufführten. Bis heute gibt es zahlreiche Adaptionen davon; die letzte große von «The King’s Speech»-Regisseur Tom Hooper wurde einmal mehr zu einem Publikumserfolg und Kritikerliebling. Ladj Lys im Original ebenfalls «Les Misérables» betiteltes Gesellschaftsdrama «Die Wütenden» hat mit all dem nichts zu tun. Die einzige Verbindung zu Victor Hugos Werk ist die geographische Verortung: Der Pariser Stadtteil Montfermeil war bereits Handlungsort von "Die Elenden“ und ist es nun von «Die Wütenden». Eine ortsansässige Schule trägt daher auch den Namen des Autors.

Und wieder geht es um einen Aufstand des Volkes gegenüber Machthabern. Hier kämpfen die Bewohner der ghettoartigen Banlieues gegen die Willkür und das Machtgehabe der sich in steten Grauzonen bewegenden Polizisten, die ihre Position der für Zucht und Ordnung sorgenden Cops diesmal einmal zu oft ausnutzen, was das symbolische Fass schließlich zum Überlaufen bringt.



Es brennt in den Vorstädten


Schon bei seinem ersten Einsatz spürt der Polizist Stéphane (Damien Bonnard), der Neuling in der Einheit für Verbrechensbekämpfung in Montfermeil, die Spannungen im Viertel, in dem es immer wieder zu hitzigen Auseinandersetzungen zwischen Gangs und Polizei kommt. Seine erfahrenen Kollegen Chris (Alexis Manenti) und Gwada (Djibril Zonga), mit denen er Streife fährt, haben ihre Methoden den Gesetzen der Straße angepasst. Hier herrschen eigene Regeln, die Kollegen überschreiten selbst die Grenzen des Legalen, sehen sich dabei aber stets im Recht. Als im Viertel ein Löwenbaby, lebendes Maskottchen eines Clan-Chefs, gestohlen wird, droht die Situation zu eskalieren. Bei der versuchten Verhaftung eines jugendlichen Verdächtigen werden die Polizisten mit Hilfe einer Drohne gefilmt. Ihr fragwürdiges Vorgehen droht öffentlich zu werden, und aus den Gesetzeshütern werden plötzlich Gejagte…

«Die Wütenden» beginnt mit Szenen der vor vier Jahren in Frankreich stattgefundenen Fußball-Europameisterschaft. Wir sehen einige der später noch relevant werdenden Figuren in einem riesigen Pulk aus Menschen; die blau-weiß-rote Flagge schwingend, euphorisch die französische Mannschaft anfeuernd und das Leben in diesen zwei Stunden in vollen Zügen genießend. Die präkeren Lebensumstände, in die viele von ihnen später wieder zurückkehren müssen, vor allem aber ihre durch die Abschiebung in die Banlieues stattfindende Ausgrenzung von der französischen Gesellschaft finden hier weder statt noch Erwähnung. Hier jubeln groß, klein, alt, jung, arm und reich gemeinsam. Diese Szenen stehen, gerade aufgrund ihrer inszenatorischen Ähnlichkeit zum Rest, im krassen Kontrast zu allem, was man danach sieht. Noch immer besitzen die Menschen in den Banlieues eine besondere Verbindung zu ihrem Land, auch Flaggen wehen immer mal wieder und die hier auf engstem Raum zusammenlebenden Menschen bilden von außen eine ganz ähnliche Masse wie die allesamt gemeinsam ein großes Sportfest feiernde Menge aus dem Prolog.

Doch die sukzessive hochkochenden Emotionen sind längst nicht mehr positiv auf ein bestimmtes Ziel gerichtet. Sie sind die Folge der hier bisweilen unmenschlichen Wohnsituation, von festgefahrener Aggression und Perspektivlosigkeit. Eine Mischung, die immer wieder dann an den Rande der Eskalation getrieben wird, wenn die Bewohner von Montfermeil auf ihre vermeintlichen Aufpasser treffen.

Ein brodelnder Hexenkessel


Autor und Regisseur Ladj Ly, der sein Spielfilmdebüt (!) auf Basis eigener Erfahrungen an Originalschauplätzen und zum Teil mit Laiendarstellern drehte, um die Authentizität der Stimmung vor Ort so intensiv wie möglich einzufangen, lässt uns die Geschichte(n) von «Die Wütenden» aus der Perspektive einer sogenannten Anti-Kriminalitäts-Brigade erleben. Stéphane ist ganz neu in diesem Viertel. Seine abgebrühten, das Gesetz stets in seinen Grauzonen vertretendem Kollegen Chris und Gwada sind in ihren Gewohnheiten dagegen längst festgefahren. Sie wenden harte, sowohl psychische als auch körperliche Methoden an, um ihren Willen durchzusetzen; Wissend, dass sie die ohnehin hohe Kriminalitätsrate nur so halbwegs in Schach halten können – und auch, so behaupten sie, um sich selbst zu schützen. Doch Ladj Ly entschuldigt nicht, er versucht nur, zu zeigen, wie verfahren die Situation bereits für sämtliche Beteiligten ist. In «Die Wütenden» gibt es keine Guten, keine Schlechten. Hier hält sich niemand an Gesetze.

Stattdessen funktioniert Montfermeil nach seinen eigenen Regeln. Immer wieder prallen die Egos der Polizisten und die Egos der Banlieue-Einwohner aufeinander. Niemand versteht niemanden. Vorurteile, persönliche Erfahrungen, Ängste und die titelgebende Wut peitschen sich gegenseitig hoch. «Die Wütenden» frustriert oft, weil er noch nicht einmal vorgibt, nach Antworten zu suchen, sondern ist einfach nur eine Veranschaulichung, wie hier seit vielen Jahren Zahnräder ineinander greifen, von denen sehr viele sehr marode sind.

Bei dieser Zustandsbeschreibung spielt der konkrete Inhalt eher eine untergeordnete Rolle. Wäre «Die Wütenden» nicht so intensiv und nah dran am Geschehen, fiele dieser Umstand deutlich mehr ins Gewicht. So aber unterstützt die Form den bisweilen unkoordiniert wirkenden, hier und da arg konstruierten Inhalt, an dessen hundertprozentiger Beendigung der Autor nicht immer interessiert scheint. Ladj Ly eröffnet gleich mehrere Erzählstränge. Von einem gestohlenen Löwen, den ein Wanderzirkus unbedingt wieder zurückhaben möchte. Von einem Jungen, den einer der Polizisten im Eifer des Gefechts niederschießt. Und von den Gewissensbissen des Polizei-Neulings, der sich um Distanz bemüht und doch vom ersten Tag an mittendrin steckt in diesem Pulverfass, das in den letzten zwanzig Filmminuten endgültig zerberstet.

Ladj Ly entscheidet sich bewusst für ein offenes Ende. Für eines, das die Endlosspirale aus Hass, Gewalt und Wut gerade deshalb so perfekt einfängt, weil sie zeigt, dass sich hier längst sämtliche Personen ihre Möglichkeiten zur Flucht verbaut haben. Schon die Jüngsten werden mit der Gesetzlosigkeit von Montfermeil konfrontiert und in eine Perspektivlosigkeit hineingeboren, aus der es kein Entkommen gibt. Das gilt übrigens auch für die Polizisten, denen nach so vielen Jahren der harten Hand ein Richtungswechsel ebenfalls nicht mehr helfen würde, sich in den Banlieues Respekt zu verdienen und nicht einfach nur Angst zu verbreiten. Am Ende hilft wohl nur die Rebellion – und dann ist «Die Wütenden» doch wieder ganz nah dran an Victor Hugos «Die Elenden», nur ohne Gesang natürlich.

Fazit


Wut in Reinform – Ladj Lys «Die Wütenden» ist die Zustandsbeschreibung eines Hexenkessels. Nah dran, brutal, ungeschönt und gerade deshalb so frustrierend, weil im Laufe der 102 intensiven Minuten sämtliche Hoffnungen auf ein gutes Ende im Keim erstickt werden.

«Die Wütenden» ist ab dem 23. Januar in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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