Hingeschaut

Richtig, richtig gut: «Jenke macht Mut» - und RTL beweist bei der Ausstrahlung Mut

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Selten hat sich das deutsche Fernsehen in so authentischer, direkter und ergreifender Form mit dem Tabu-Thema Brustkrebs befasst, wie es Jenke von Wilmsdorff in seiner neuen Reportage tut. Dass eine solche Sendung für RTL entsteht, ist bemerkenswert genug, doch für den Primetime-Sendeplatz gebührt dem Privatsender ein besonders großer Respekt.

Gibt es sie eigentlich noch, die ganz großen Tabu-Themen für das deutsche Fernsehen? Vielleicht weniger in der Hinsicht, dass eine Obrigkeit oder strenge Sittenwächter von ausreichender Relevanz wären, um vorgeben zu können, welche Dinge vermeintlich nicht öffentlich angesprochen werden dürfen. Sehr wohl aber bestehen manche Tabus fort, welche die Ausrichtung von vor allem großen, nach hohen Einschaltquoten strebenden Sendern anbetrifft - bitte nicht zu komplex und fordernd, vor allem aber nicht allzu deprimierend sollten die Inhalte sein, mit denen RTL, ProSieben und Co. einen typischen Abend um 20:15 Uhr begehen. Und es gibt verdammt viele typische Abende um 20:15 Uhr.

Dass der 7. Mai 2018 zumindest auf RTL alles andere als eine solche Standard-Primetime ist, liegt am Neustart «Jenke macht Mut», der mit bemerkenswerter Schonungslosigkeit die tristen und schmerzhaften Facetten des generell wenig Glücksgefühle auslösenden Themas Brustkrebs aufzeigt. Umso intensiver wirken aber im Zuge dessen auch die kurzen Augenblicke des Aufatmens, umso begeisterter wird jede noch so kleine positive Nachricht aufgenommen - und umso mehr reift die emotionale Bindung, die der Zuschauer innerhalb der zwei Stunden Brutto-Sendezeit mit den Protagonisten aufbaut. Nicht zuletzt natürlich auch deshalb, weil Authentizität bei dieser Produktion augenscheinlich an erster Stelle steht.


Harter, existenzieller Tobak


Was man zu sehen bekommt, wenn man sich auf diese schonungslosen zwei Stunden einlässt? In allererster Linie einen kleinen, aber intensiv begleiteten Ausschnitt aus dem zermürbenden alltäglichen Kampf (vorwiegend) weiblicher Brustkrebs-Patienten gegen den Feind in ihnen. Neben diesem reinen Reportagen-Aspekt versucht sich Jenke aber auch an dokumentarischen Inhalten, indem er diverse Zahlen und Fakten zu der Erkrankung in seine Sendung einbettet und mehrfach auch mit kleinen Erklärfilmchen arbeitet, die wirklich sehr verständlich verbalisieren und anschaulich visualisieren, wie etwa eine typische Chemotherapie so abläuft.

Wuar, Chemotherapie - böses Wort, weg damit! Wer gleich in diesen Verdrängungsmechanismus abdriftet, wird es schwer haben, das abendliche RTL-Programm zu ertragen, denn Jenke und Team schonen ihr Publikum verblüffend wenig: Ein wesentlicher Bestandteil ihrer Reportage besteht nämlich daraus, die Damen und ihr direktes persönliches Umfeld bei den Strapazen ihrer Chemos und Operationen zu begleiten - so nah und so direkt, dass auch der Zuschauer einen zumindest ungefähren Eindruck davon erhält, wie unglaublich zermürbend das für die Betroffenen sein muss. Nach einer vielleicht etwas zu dramatisch und pathetisch geratenen Einleitung beginnt man damit im Grunde schon in der ersten Szene, die Jenke, dessen ebenfalls an Brustkrebs erkrankte Schwägerin sowie seine Ehefrau Mia am Frühstückstisch zeigen - und dann fließen auch schon erstmals die Tränen, als das Trio versucht, die vergangenen Monate seit der Diagnose noch einmal Revue passieren zu lassen.

Dass hier nicht zum letzten Mal Tränen fließen sollen, ist völlig okay und anders als in diversen anderen Fernsehformaten, in denen sie gerne mal auch eher als überzeichneter Selbstzweck daherkommen, um irgendwas mit Emotion anbieten zu können, den Umständen auch zu jedem Zeitpunkt komplett angemessen. Immerhin lassen hier Menschen Einblicke in ihre Gefühlswelt zu, die permanent um ihr Leben kämpfen müssen und die bei einem mit Umschlag bewaffneten "Dr. X" nicht darauf warten, ob sie bei einem belanglosen Casting-Zirkus eine Runde weiterkommen, sondern ob die letzte Therapie angeschlagen hat und der Krebs gestreut hat. Oft fällt der Satz "Ich nehme jetzt nur noch das Wesentliche im Leben wahr" - man glaubt im Verlauf der zwei Stunden immer mehr, den Protagonisten ansatzweise nachempfinden zu können, was sie damit meinen.


Nette Momente des Durchatmens, Jenke macht wieder Punkte gut


Ein paar Momente des Durchschnaufens gönnt uns die Sendung dann allerdings doch zwischen all diesen bedeutungstragenden Momenten: Jenke macht sich in einer der weniger mitreißenden Szenen etwa auf die Suche nach dem Geheimnis der Bewohner der japanischen Insel Okinawa, wo die Menschen im Schnitt deutlich älter werden und deutlich seltener an Krebs ertragen als der gemeine Westeuropäer. Das ist nett, ja irgendwie sogar wichtig, um auch mal ein paar Minuten einfach ganz unbeschwert fernsehen zu können, aber natürlich bei weitem nicht so ergreifend wie der große Rest des Zweistünders. Zudem versucht sich Jenke über diesem Wege auch, den nicht ganz leicht sinnvoll und fair einzubettenden Aspekten vegane Ernährung und Naturheilkunde gerecht zu werden - gelingt insofern, dass hier einmal nicht die üblichen in ihrer Dümmlichkeit langweilenden Ökofreak-Klischees bedient werden. Die großen, über "vegane Ernährung ist eigentlich ganz cool" und "Naturheilkunde kann eine sinnvolle Ergänzung zur klassischen Schulmedizin darstellen" hinausgehenden Erkenntnisse verschaffen diese thematischen Ausritte dann aber nicht.

Jenke von Wilmsdorff wiederum macht als Moderator so einige Punkte wieder gut, die er zuletzt durch sein eher missratenes Projekt «Kopfgeld» verloren hat: Empathisch, zurückhaltend und als sehr guter Zuhörer agiert er hier, er kann sein ehrliches Interesse an den Lebensgeschichten der Menschen zeigen und besitzt hier dann doch weitaus höhere Kompetenzen als beim Sinnlosen In-der-Gegend-Rumstehen und Spielkärtchen-Vorlesen, was seine vorrangige Aufgabe bei seinem jüngsten Projekt gewesen war.

Kleiner Quotentipp: Wie gut läuft «Jenke macht Mut» in der Zielgruppe (14-49 Jahre)?
Das wird ein Hit, 14% oder mehr.
27,4%
Dürfte ganz ordentlich laufen, ich tippe auf 12-14%.
34,9%
Wird vermutlich im grauen Mittelmaß landen, 10-12%.
25,1%
Ich glaube, das wird eine Enttäuschung: 8-10%.
9,7%
Wird mit weniger als 8% komplett untergehen.
2,9%


Fazit: Tolles Fernsehen mit hoher Flop-Gefahr


Doch so liebevoll die Reportage auch gestaltet ist, so viel Mühe man sich auch gegeben hat, dem schweren Thema gerecht zu werden und es eben nicht zugunsten der Privatfernsehtauglichkeit zu simplifizieren und so bewegend es auch sein mag, den Geschichten der Betroffenen zu folgen, muss man sich darauf ja erst einmal einlassen. Und es scheint durchaus möglich, dass viele Menschen darauf schlichtweg keine Lust haben bzw. diesem Thema lieber ausweichen, so lange es keine unbedingte Notwendigkeit gibt, sich ihm zu widmen. Diese Drei-Affen-Mentalität kann sich gut und gerne auf die Einschaltquoten in negativer Art und Weise niederschlagen - das dürfte RTL auch wissen, sich aber diesen Abstecher hin zum Niveaugipfel einfach mal gegönnt haben. Vielleicht aber unterschätzt man das Publikum auch einmal mehr, was in der langen Geschichte des Fernsehens auch bereits das eine oder andere Mal vorgekommen ist.

In jedem Fall sollte sich «Jenke macht Mut» jeder anschauen, der authentische Reportagen liebt, die ihr Publikum nicht mit Samthandschuhen anfassen und bereit sind, ihnen auch die dramatischen und schier ausweglosen Lebenssituationen schonungslos darzubieten - und dabei doch so empathisch performen, dass man stets mit den so tapferen, mutigen Heldinnen sympathisiert und mitfiebert, die sich ihrem inneren Dämon stellen. Na, werden wir grad ein wenig kitschig? Das ist okay. Und sollte auch der Sendung verziehen werden, wenn sie nach knapp zwei Stunden zu einem positiven, ja verkitschten Ende kommen möchte.

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