Die Kino-Kritiker

«Greatest Showman»: Das energiereiche Wohlfühlmusical, das heller im Köpfchen ist, als es den Anschein erweckt

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Um es mit vollmundigen Zirkusversprechen zu sagen: "«Greatest Showman» ist das bunteste, munterste, spektakulärste Filmerlebnis voller mitreißender Musik, das ihr euch vorstellen könnt!" Oder: "Kommt her und bestaunt ihn, den weltweit einzigen Kritiker, dessen Meinung einen Film beeinflusst, noch während er läuft!"

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Auftritt der Nase rümpfenden, schreibenden Zunft


Die Songschreiber

Die Lieder in «Greatest Showman» stammen allesamt von Benj Pasek & Justin Paul. Das Duo verfasste bereits Lieder für die NBC-Musicalserie «Smash», das Musicalcrossover der Superheldenserien «The Flash» und «Supergirl» sowie für den Oscar-Abräumer «La La Land». Zu ihren nächsten Projekten gehören Guy Ritchies «Aladdin»-Realfilm, an dem sie zusammen mit Disney-Legende Alan Menken arbeiten werden, sowie eine neue Disney-Version von «Schneewittchen und die sieben Zwerge».
Was haben P. T. Barnum und solche Talente wie Jim Carrey, Tom Hanks, Ben Affleck, Woody Allen, Bradley Cooper, Sally Field, Anne Hathaway, Michael Keaton, Matthew McConaughey, Keanu Reeves, Shia LaBeaouf, Steve Carell und Amy Adams sowie Dutzende, ach, Hunderte weitere gemeinsam? Sie alle hatten ihren Durchbruch in der sorglosen, frohgemuten, anspruchslosen Unterhaltung. Doch eine Karriere, die mit vermeintlich leichten Publikumslieblingen beginnt, muss offenbar zwangsweise in das Schaffen ernsterer, daher besser angesehener Werke münden.

In Jenny Bicks' und Bill Condons «Greatest Showman»-Drehbuch wird dieser Karrierewandel durch einen snobistischen Kritiker eingeleitet: Obwohl Barnums mit Artistinnen und Artisten jeder Farbe, Form und Größe ausgestattete, heitere Show unentwegt vor ausverkauftem Haus stattfindet und das Publikum sichtlich von den Socken reißt, findet James Gordon Bennett (spitzfindig: Paul Sparks) keinerlei Gefallen an den in seinen Augen geschmacklosen, hohlen Albereien Barnums. Dieser schmückt sich zunächst noch mit der gerümpften Nase der Snobelite, aber nach und nach nagt die Kritikerschelte sehr wohl an seinem Ego. Sobald die schreibende Zunft die Manege des Filmzirkus namens «Greatest Showman» betritt, beginnt es aber nicht nur in der Figur Barnum zu rattern, es werden auch die Weichen für eine schleichende, aber bedeutende Kursänderung im narrativen Fokus und in der Erzählhaltung gestellt. Dieser Film, bei dem eingangs der grobe Inhalt (Zirkus!) die Form (Bombast!) vorgibt, verfolgt diese Methodik also feingliedrig weiter, als neue Handlungskomponenten an Gewicht gewinnen.

Zuerst setzt sich Barnum die Idee in den Kopf, den angesehenen Bühnenautoren Phillip Carlyle (engagiert: Zac Efron) anzuheuern, damit er seinem Zirkus Stil, Klasse und Prestige verleiht. Obwohl der Song, in dem Barnum und Carlyle über eine etwaige Kooperation verhandeln, erneut die innere Dramaturgie eines Musical-Dialogliedes aufweist und mit einem R&B/Pop-Arrangement gewürzt wird, ändern sich der Tonfall des Texts und der Inszenierung. In gesungener Form werden etwaige Stolperschwellen in Barnums Traum vom großen Entertainment gegen die Vorteile seiner präferierten Kunstform abgewogen – zuvor waren die Liedtexte deutlich schwärmerischer und blauäugiger. Die Kritikerstimme hallt nun gewissermaßen im Hinterkopf der Songschreiber nach.

Die dazugehörige Szene wird derweil als erste Gesangs- und Tanznummer dieses Films in reiner, theaterhafter Form präsentiert. So, als wolle der Film, wie auch Barnum, nun stärker um das altmodische Publikum buhlen. Keine bewusste, kitschig-nostalgische Stilisierung wie bei der Leinwand-Skyline-Traumnummer "A Million Dreams", keine Videoclipästhetik; kein dem ästhetischen Sinn jüngerer Filmmusicals nachempfundener Rob-Marshall-Hybrid aus Gesang aus dem Off und Gesang in der Szenerie, während bloß eine dezente Choreografie dem Geschehen musicalhaften Schwung gibt. "The Other Side" ist eine Bar-Tanznummer, wie aus zahlreichen Musicals der 30er bis 60er, die sechsköpfige (!) Cuttermannschaft hinter «Greatest Showman» bremst ausnahmsweise ihr Tempo, nachdem sie zu Beginn des Films noch in großen Schritten durch Barnums frühes Leben spurtete.

Kaum ist Efron alias Kritikerdarling Carlyle eingestellt, dämpft «Anna Karenina»-Kameramann Seamus McGarvey dezent die Farbintensität seiner Bilder, während Barnum immer energischer nach Kritikeransehen, Applaus von der höheren Gesellschaft sowie Ansehen als Kenner hoher Kunst strebt. Der Zirkusdirektor fliegt die gefeierte schwedische Sängerin Jenny Lind (mit Gravitas und verschmitztem Grinsen: Rebecca Ferguson) in die USA ein, um sich endlich Respekt als ernstzunehmender Kunstmäzen zu verschaffen. Lind bringt die zeitloseste Gesangseinlage des Films mit sich, die auf nennenswerte Elektroakzente verzichtende, kraftvolle "Ich will mehr"-Ballade "Never Enough", die auch aus einem konventionellen, doch imposanten Andrew-Lloyd-Webber-Musical stammen könnte. Mit seinem satten Orchestereinsatz sowie der emotionalen Berg-und-Tal-Fahrt, die die Sängerin während des Lieds durchläuft, ist der Song "Never Enough" mit voller Absicht eine nach Preissegen gierende, auf Kritikerapplaus abzielende Komposition – und sie erfüllt in der Welt von «Greatest Showman» ihren Zweck mit Bravur.

Anders als Barnum bleibt sich der Regisseur unseres Rummels treu: Obwohl «Greatest Showman» in diesem mittleren Akt ernster und dezent ruhiger wird, zeigt sich Gracey als Schelm, lässt seine Figuren immer wieder betonen, welch echtes, unverfälschtes Talent Jenny Lind doch sei. Ihre Darstellerin Rebecca Ferguson ist aber nur eines von zwei Ensemblemitgliedern, das nicht selber singt. Der einzige andere "Schwindler"? Ellis Rubin, der junge, noch vom Leben als Unterhaltungskünstler träumende, aber noch einen weiten Weg vor sich habende Arbeitersohn P. T. Barnum.

Barnums Bemühungen, ein "ernster Künstler" zu werden, und der konsequente Richtungswechsel des Films, haben ein Nachbeben: Die Figur Barnum verliert ihr Zirkusgeschäft und ihre Artisten aus den Augen, sorgt sich weniger um ihre Familie – und stößt den vom Pöbel als Freaks betrachteten Zirkusangestellten vor den Kopf. Barnum macht unmissverständlich klar, dass er nicht mit ihnen gesehen werden möchte und fürchtet, sie könnten seinem Ruf schaden. In diesem Moment erfolgt eine weitere Zäsur in «Greatest Showman»: Gracey nimmt sein reines, Modernität und Nostalgie durcheinanderwirbelndes Spektakel, das Barnums Pfad folgte, und geht auf Distanz zu Barnum.

Der erstaunliche Zirkusakt, den Gracey im Zuge dessen vollbringt: Selbst nach dem von Keala Settle in der Rolle der bärtigen Lady Lettie dahingeschmetterten Gänsehautsong "This Is Me" verfolgt «Greatest Showman» unabdinglich sein Eröffnungsstatement – selbst wenn es vage uminterpretiert wird. Condon, Bicks und Gracey fiktionalisieren die wahre Geschichte nach ihren Wünschen, deuten Dramen und Fehltritte nur an, statt dokumentarisch-streng die realen Ungerechtigkeiten festzuhalten. Skript und Regie impfen dem filmischen Wirbel zeitgenössische Werte ein, statt den in Realität so kontroversen Barnum völlig ungescholten davonkommen zu lassen.

Aus der anfänglichen Identifikationsfigur, die das Publikum bewundern und anfeuern soll, weil sie ihre Träume verwirklicht und die Welt verändert, indem sie Unterhaltung erfindet, arroganten Kritikern die Stirn bietet und Ausgegrenzten einen Platz gibt, wird ein makelbehafteter Protagonist. Jemand, der sich für was Besseres hält, ein unkonzentrierter Maulheld, bei dem sich die Frage aufdrängt, ob er diese Fehler überkommen wird.

Von "This Is Me" an sind die vermeintlichen Freaks, der sich viel weiter als Barnum einem unterhaltsamen, vorurteilsfreien Leben öffnende Carlyle und dessen Angehimmelte, die Trapezkünstlerin Anne Wheeler (wandlungsfähig: Zendaya) die Identifikationsfiguren. Sie sind die Stimmen der Vernunft, nunmehr sind sie, nicht Barnum, die Vordenker. Barnum und Familie geraten allerdings nicht völlig aus dem Fokus, sondern werden in eine Versöhnungserzählung eingebunden. Für einen strengeren Fokuswechsel ist Graceys Filmzirkus entweder nicht radikal genug oder aber er hält schlicht an seinen optimistischen Eröffnungstakten fest. Als klar dem Publikum seine historische Ungenauigkeit entgegenbrüllendes Musical sei «Greatest Showman» so viel Wunscherfüllungshaltung aber gestattet. Wird doch bereits in den ersten Filmminuten mit voller Inbrunst davon gesungen, dass in der folgenden Show unter all den bunten Blinklichtern Unmögliches wahr wird …

Ein durchdacht orchestrierter, greller Rummel, der sich zu wandeln weiß


«Greatest Showman» durchläuft in den nicht einmal 106 Minuten Laufzeit subtile, aber keinesfalls zu verachtende Haltungswechsel – was später sogar noch einmal von Barnum-Kritiker James Gordon Bennett kommentiert wird und so das augenzwinkernde erzählerische Rückgrat des Films intakt hält. Durch diese dezenten tonalen Änderungen bleibt der laute, rasante, turbulente, dick auftragende Modus Operandi obendrein durchweg frisch, ohne je zerfahren zu wirken. Denn der inszenatorische Wandel von Beginn bis zu "This Is Me" wird anschließend gespiegelt – nach und nach werden alle zuvor unternommenen Schritte erneut getätigt. So wird eine formale Klammer um den Filmstoff gesetzt.

So wild und hibbelig Graceys Stilclash oberflächlich also scheinen mag – es stecken kunstvolles Kalkül dahinter und die strenge Disziplin eines Dompteurs. Und das Dilemma, ein unterhaltsames "Sei wie du bist!"-Wohlfühlmusical, das nebenher sich selber thematisiert, ausgerechnet am diskutablen Aufhänger "Barnum und sein Zirkus" aufzuziehen? Das wird dank des Sympathie-Auf-und-Abbaus rund um Jackmans Hauptfigur ähnlich pfiffig-hintersinnig gelöst. Indem «Greatest Showman» selber seine filmische Moral vorlebt und sie seiner Wunschvorstellung der Titelfigur aufsetzt:

Stolz und grell verkündet dieser Film anfangs, so zu sein, wie er ist. Und selbst wenn Barnum-Humbug und Kritiker-Naserümpfen für dezente Stimmungsschwankungen sorgen, bleibt sich dieser Film in seiner schrillen Gesamtheit durchweg treu – und reißt in all seinem, nach Unterhaltung und Selbstverwirklichung strebendem, nostalgisch-modernen "Das bin ich!"-Stolz glatt seine Figuren mit. Wenn einem Film sowas Abstraktes so fahnenschwenkend gelingt, welche Möglichkeiten haben wir dann alle erst, wenn wir uns weigern, uns unterkriegen lassen?

Fazit: «Greatest Showman» ist ein mitreißender, stolzer, lauter, seltsamer, aus dem Heute ins Damals zurückblickender, eskapistischer Musicalzirkus, der hinter all seinem Pomp erstaunlich clever konstruiert ist.

«Greatest Showman» ist ab dem 4. Januar 2018 in vielen deutschen Kinos zu sehen.

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