Die Kino-Kritiker

«Atomic Blonde»: Wenn gute Action auf starres Storytelling trifft

von

«John Wick»-Co-Regisseur David Leitch unterstreicht Charlize Therons Power als Actionstar, doch abseits der Stuntszenen fällt «Atomic Blonde» in ein 80er-Nostalgie-Koma.

Filmfacts «Atomic Blonde»

  • Regie: David Leitch
  • Produktion: Charlize Theron, Beth Kono, A. J. Dix, Kelly McCormick, Eric Gitter, Peter Schwerin
  • Drehbuch: Kurt Johnstad; basierend auf "The Coldest City" von Antony Johnston & Sam Hart
  • Darsteller: Charlize Theron, James McAvoy, John Goodman, Eddie Marsan. Toby Jones, Sofia Boutella
  • Musik: Tyler Bates
  • Kamera: Jonathan Sela
  • Schnitt: Elísabet Ronaldsdóttir
  • Laufzeit: 115 Minuten
  • FSK: ab 16 Jahren
Wenn James Bond sein Jackett nach einem gewaltigen Crash mit steinerner Miene geraderückt, sieht dies nicht nur ungeheuerlich cool aus. Es trifft zudem eine Aussage über den geschniegelten Casanova-Agenten, der selbst im Einsatz größten Wert auf sein Erscheinungsbild legt. Und wenn ein mit Kraken-Schleim vollgespuckter Käpt'n Jack Sparrow zunächst angewidert dreinblickt, dann aber allem Ekel und dem drohenden Tod zum Trotz seinen wiedergefundenen Hut voller Zufriedenheit aufsetzt, dann ist dies mehr als ein kleiner Gag während einer dramatischen Filmszene. Es zeigt auf, welche verqueren, für ihn selbst aber logischen Prioritäten der versoffene Piratenkapitän setzt.

Im Agentenactioner «Atomic Blonde» prügelt sich die vom MI6 ins geteilte Berlin geschickte Lorraine Broughton durch eine Reihe von Polizisten. Die unmaskierte Agentin behält mühelos die Oberhand. Nachdem sie sich von einem Balkon in einen Hinterhof abgeseilt hat, zieht sie ihren Rollkragenpullover hoch, so dass er die untere Hälfte ihres Gesichts verdeckt, woraufhin sie zwei weitere Gesetzeshüter umhaut. Direkt danach lässt sie ihre Tarnung wieder fallen. Der alleinige Sinn und Zweck dieser Pulloverkragen-Hochzieh-Geste?
Sie soll cool aussehen – wenn «Atomic Blonde»-Hauptdarstellerin Charlize Theron unmittelbar vor der Kamera steht und fast schon das Publikum anstarrt, entschleunigt dies kurzzeitig einen rasanten Actionmoment, ehe ein letzter Zwei-gegen-Eine-Kampf als Nachklapp dieser Sequenz dient. Aber es werden weder Aussagen über den Charakter der Protagonistin getroffen, noch gibt es einen erzählerischen Anlass. Denn Lorraine verfolgt, wie bereits angedeutet, die Tarnmentalität eines sich stets auf dem Silbertablett präsentierenden James Bond.

Es käme dem Haarspalterei-Irrsinn des unverdient erfolgreichen YouTube-Channels 'Cinema Sins' gleich, «Atomic Blonde»-Regisseur David Leitch diesen einzelnen, kleinen Aspekt anzukreiden. Kinofilme sind mehr als die Summe ihrer "Was sollte das eben?"-Momente und handwerklichen Schnitzer. Doch was sich Leitch, jahrzehntelanger Stuntman, erfahrener Stuntchoreograf und Co-Regisseur des Actionkrachers «John Wick», sehr wohl gefallen lassen muss: Diese in den «Atomic Blonde»-Trailern und -Werbespots prominent eingesetzte Geste steht symptomatisch für eine grundlegende Charakteristik dieser 30-Millionen-Dollar-Produktion.

Leitch weiß, was cool aussieht. Er hat ein Auge für diese kleinen Vignetten, die wie für Trailer gemacht sind und sich dauerhaft ins Gedächtnis des Publikums einbrennen. Was ihm sowie Drehbuchautor Kurt Johnstad («300: Rise of an Empire») allerdings in «Atomic Blonde» abhanden geht, ist das Händchen dafür, all dies zu einer packenden Narrative zusammenzuführen, die dem Betrachtenden die zentrale Figur näher bringt und eine dynamische Spannungskurve aufweist.

Das während des Kalten Krieges angesiedelte Agenten-Verwirrspiel zeigt, wie Lorraine Broughton dem MI6 sowie dem CIA nacherzählt, was während ihres von Rückschlägen geplagten Einsatzes in Berlin vorgefallen ist. Dadurch, dass der Hauptplot als Rückblende erzählt und regelmäßig zurück auf Lorraines Verhör geschnitten wird, verliert «Atomic Blonde» jede Menge narrativen Schwung: Obwohl Leitch seinen Film als überstylische Agenten-Actionsause anlegt, bricht das Erzähltempo regelmäßig ein, damit Lorraine in Berlin mit verschwörerischem Blick eskalierende Gespräche mit Agentenkollege David Percival (James McAvoy, so exzentrisch, als sei seine Figur vom «Split»-Set geflohen) führen kann. Weitere Durststrecken kommen vor, wann immer im Verhörraum der stets gleiche Ablauf der Dinge (strenge Frage, schnippische Antwort, gefrustete Nachfrage, gelangweilt-unterkühlte Überleitung zum Rest der Erzählung) abgespult wird.

Zudem wird der eigentlich sehr simple Plot (eine Liste, die alle im Osten stationierte Doppelagenten enthüllt, darf nicht in die falschen Hände geraten) mit einer derartigen Gelassenheit erzählt, dass er unter dem ganzen Verrat und Gegenverrat untergeht. Dies führt aber dazu, dass sich zwischen den Actionpassagen lange Dürrestrecken ergeben. Während Leitchs Faible für dominante Neonlichter zumindest Partyszenen und Ruhemomente in originell beleuchteten Hotelzimmern zu visuell anregenden Momenten formt, wird der ewige, künstlich wirkende Graufilter in Szenen bei Tageslicht und das Marvel-Netflix-Serien-Schattenspiel in Hinterhöfen alsbald langweilig.

Also ist es allein an Charlize Therons magnetischer Leinwandpräsenz, die Nicht-Actionszenen vorm völligen Einsturz zu bewahren. Wenn Leitch jedoch Nahkämpfe und Schusswechsel inszeniert, bekommt dieser eisig-komatöse Film auf einmal einen Puls. Vor allem eine minutenlange Auseinandersetzung in einem Treppenhaus, bei der Lorraine ordentlich einstecken muss, aber auch äußerst akrobatisch austeilt und nebenher sehr taktisch vorgeht, bleibt in Erinnerung.

Von einem Soundtrack voller 80er-Hits getragen, deren Einsatz gelegentlich sehr penetrant wirkt, wird «Atomic Blonde» Nostalgiker wenigstens zwischenzeitlich um den Finger zu wickeln wissen, und Sofia Boutella («Star Trek Beyond», «Kingsman – The Secret Service») darf als naive Französin auch mal ihre sanftere Seite zeigen, nachdem sie bislang eher zu den taffsten Personen in ihren Kinoprojekten zählte. Und, ja, die Balance, die Leitch bei seiner Hauptfigur sucht, ist im Agentengenre rar zu finden: Sie ist selbstbewusst und lässig wie Bond, wird aber im Laufe der ganzen Actionszenen noch realistischer in Mitleidenschaft gezogen als Bourne.

Theron kann das tragen und daher wäre entgegen der Schwäche dieses Erstlings ein zweiter Leinwandeinsatz von Lorraine Broughton durchaus willkommen – die Figur hat Potential. Aber nicht, wenn die Story noch einmal so ungeheuerlich egal, zugleich aber so ausschweifend erzählt wird. Style over Substance funktioniert halt nur, wenn der spröde, austauschbare Inhalt durch seine Quantität den Look nicht doch wieder übertönt …

«Atomic Blonde» ist ab dem 24. August 2017 in vielen deutschen Kinos zu sehen.

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