Sonntagsfragen

Ron und Cornelia Suskind: «Life, Animated» und die Magie des Kinos

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Wie geht man die Balance zwischen einer leicht verständlichen Dokumentation und der runden Charakterisierung des eigenen Sohnes? Quotenmeter.de sprach mit Ron und Cornelia Suskind über die Doku «Life, Animated», die sich ihrem autistischen Sohn Owen widmet, sowie über Fragen, die der Film offen lässt.

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Viele Computeranimationsfilme bemühen sich um eine gewisse Art des Realismus, in Disney-Zeichentrickfilmen lässt sich dagegen sehr oft die Stimmung einer Figur allein an ihrer Form oder Farbe ablesen. Das ist eine ganz andere, kunstvolle Art des Geschichtenerzählens und Owen erkennt das – er ist stärker davon beeindruckt, was die Zeichner leisteten, als von der etwas starreren Figurenanimation am Computer.
Ron Suskind
In «Life, Animated» wird quasi ausschließlich über Zeichentrickfilme gesprochen – nicht über Computeranimationsfilme. Ich sprach vor einigen Jahren einmal mit einem Autisten, der meinte, Zeichentrickfilme vorzuziehen, weil dort die Emotionen der Figuren stärker lesbar sind – Computertrickfilme seien ihm oft zu feingliedrig in Sachen Mimik und Gestik. Ich hatte daher nach dem Film die Vermutung, dass es Owen ähnlich geht, dann las ich aber ein Interview mit ihm, in dem er «Toy Story 2» als eine der besten Fortsetzungen überhaupt bezeichnete ..?
Ron Suskind: Es ist so, dass Owen über die Jahre hinweg gelernt hat, Nuancen besser zu deuten und daher seine Probleme nachlassen, soziale Gepflogenheiten und Gefühlsregungen als solche zu erkennen. Daher kann er sich mittlerweile auch für Realfilme begeistern, und davor lernte er, Computeranimationsfilme zu wertschätzen. Und dennoch: Zeichentrickfilme liegen ihm am meisten am Herzen, sie sind quasi das Fundament seines Lebens sind. Es sind die Filme, auf die er mit der größten Begeisterung zurückgreift und an die er am liebsten zurückdenkt. Da spielen die klaren, deutlich überzeichneten Regungen der Figuren gewiss eine Rolle, aber es ist generell eine Kunstform, die ihm mehr zusagt. Viele Computeranimationsfilme bemühen sich um eine gewisse Art des Realismus, in Disney-Zeichentrickfilmen lässt sich dagegen sehr oft die Stimmung einer Figur allein an ihrer Form oder Farbe ablesen. Das ist eine ganz andere, kunstvolle Art des Geschichtenerzählens und Owen erkennt das – er ist stärker davon beeindruckt, was die Zeichner leisteten, als von der etwas starreren Figurenanimation am Computer.

Eine weitere Verständnisfrage noch … In «Life, Animated» wird nie konkret darüber gesprochen, wie Owens "Filmlexion" zustande kommt, also die Auswahl an Filmen, mit dem er sich die Welt erklärt, und anderen, wie es ihm geht. Owens Bruder stellt einmal die Frage, wie man ihm Dinge erklären könnte, die er nicht aus Filmen kennt. Ein Lösungsansatz wäre ja, ihm entsprechende Filme an die Hand zu reichen. Die Dokumentation geht dann letztlich anderen Aspekten nach – ich mutmaße also nur, dass die Idee daran scheitert, dass Owen "seine" Filme selber finden muss?
Cornelia Suskind: Absolut, genau so ist es. So etwas muss Owen immer alleine entdecken. Und mittlerweile ist es für uns völlig unmöglich geworden, ihn in seiner Filmwahl irgendwie zu beeinflussen. Er ist 26 Jahre alt und ein sehr eigensinniger, selbstständiger Mann geworden, er könnte sich nicht weniger für uns oder unsere Filmtipps interessieren. (lacht) Erst neulich gab es eine Situation, wo ich ihm einen Ratschlag geben wollte, und er hat das sofort bemerkt und mich angefaucht: "Mutter, hör auf, mir Lektionen zu erteilen!" (lacht) Doch im Normalfall käme es uns auch nie in den Sinn, ihm einen Film aufzuschwatzen. Wir haben früh bemerkt: Damit Owen das meiste aus einem Film ziehen kann, muss er ihn selber finden, selber bemerken, wie sehr er ihn berührt, und ihn von ganz allein verinnerlichen.
Ron Suskind: Es ist durchaus so, dass wir sagen können: "Oh, lass uns mal wieder zusammen Film XY gucken", und wir können danach darüber reden, weshalb er diesen Film so sehr mag oder woran er ihn erinnert. Aber die Auswahl an Filmen, die er als Referenzpunkte nutzt, muss allein von ihm ausgehen. Er würde ja auch schon deshalb keine Empfehlungen von uns annehmen, weil sein Fachwissen viel größer ist, als unseres. Wir sind für ihn nur Amateure. (lacht)

Owen wird sehr eloquent, wenn ein Kritiker eine Meinung hat, die er so partout nicht nachvollziehen kann. Wir hatten mal ein sehr langes Gespräch darüber, als er einen Artikel über "Box Office Bombs" gelesen hat, die der Autor auch allesamt schlecht fand. Owen fand es eine Ungeheuerlichkeit – nur, weil ein Film an der Kasse gefloppt ist, bedeute das nicht, dass gar nichts Gutes an ihm sei.
Cornelia Suskind
Ich könnte mir vorstellen, dass Owen dann auch nichts von Kritikern hält? (lacht)
Ron Suskind: Das würde ich so nicht unterschreiben. Das hängt wirklich von Fall zu Fall ab. Mir ist aufgefallen, dass Owen es bemerkt, wenn ein Kritiker stets nur dem Konsens nachredet – die nimmt er nicht ernst. Wenn ein Kritiker aber, genau wie er, auch mal von der populären Meinung abweicht, ist er direkt stärker interessiert – erst recht, wenn er gut artikulieren kann, weshalb ihm etwas gefallen hat oder nicht.
Cornelia Suskind: Owen wird sehr eloquent, wenn ein Kritiker eine Meinung hat, die er so partout nicht nachvollziehen kann. Wir hatten mal ein sehr langes Gespräch darüber, als er einen Artikel über "Box Office Bombs" gelesen hat, die der Autor auch allesamt schlecht fand. Owen fand es eine Ungeheuerlichkeit – nur, weil ein Film an der Kasse gefloppt ist, bedeute das nicht, dass gar nichts Gutes an ihm sei.

Eine letzte Frage, die ich noch loswerden muss: Wie haben Sie eigentlich sicher gestellt, dass Owen mit all dem einverstanden ist, und sich nicht wegen des Films geniert?
Ron Suskind: Vor dem Film entstand ja bereits unser Buch «Life, Animated», und als es fertiggestellt war, haben Cornelia und ich es die ganze Familie lesen lassen, um das Okay zu haben, ehe es veröffentlicht wird – und wir haben Owen vorgewarnt, dass es einige emotional brutale Stellen beinhalten könnte. Owen war aber damit vollkommen einverstanden, weil er fand, dass es diese Passagen bräuchte, damit die Welt besser verstehen kann, wer er als Mensch ist.

Beim Film gingen wir dann so vor, dass ich ihn mir zuerst alleine anschaue. Danach habe ich ihn mir noch einmal angeschaut, und zwar zusammen mit Owen. Und unser Deal war: Sollte es irgendeine Stelle geben, mit der er nicht einverstanden ist, wird sie ohne Widerrede rausgenommen. Und kurz bevor wir uns den Film anschauen wollten, bemerkte ich, dass Owen ganz nervös wird. Ich habe ihn gefragt, ob alles in Ordnung sei, und er fragte mich über den Film: "Das ist die Heldenreise, oder?" Ich habe es bejaht und ihn gefragt, was wir über diese typische Erzählstruktur wissen. Er meinte: "Würden dem Helden niemals Hindernisse in den Weg gelegt, könnte er niemals zum Helden heranwachsen."

Ich stimmte ihm zu und warnte ihn vor, dass der Film alle Hindernisse, die sich ihm bis zu diesem Zeitpunkt gestellt haben, auf der großen Leinwand zeigen wird. Er meinte, dass das auch so sein müsste – und wir schauten ihn uns an. Und Owen hat ihn sehr gemocht, inklusive der schwierigen Stellen. Nach der Vorführung hat Owen den Regisseur umarmt, und das war ein wichtiger Moment – hätte Owen Kritik geäußert, hätten wir den Film nie veröffentlicht.

Die Version, die veröffentlicht wurde, ist also die Fassung, die Owen gesehen hat?
Ron Suskind: Genau – zu meinem eigenen Erstaunen hat er nicht eine einzige Szene rausschneiden lassen.

Cornelia Suskind: Der Ehrlichkeit halber: Owen hat den Film damals gesehen und auf der Weltpremiere im Rahmen des Sundance Filmfestivals – und seither nie wieder. Ich denke, dass es dabei auch bleiben wird, denn auch wenn er den Film liebt, liebt er es ganz und gar nicht, ihn sich anzuschauen – dafür sind zu viele schmerzvolle Szenen drin, die natürlich unangenehme Erinnerungen wachrufen. Trotzdem hat er alle Beteiligen wissen lassen, wie stolz er auf ihre Arbeit ist.

Herzlichen Dank für das einsichtsreiche Gespräch.
«Life Animated» ist derzeit in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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