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«Black Mirror»: Bist du bereit für die bitterböse Dystopie?

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Netflix hat die britische Serie zu Recht gerettet - bevor die neue Staffel das Licht der Öffentlichkeit erblickt, fordern wir euch zum Rewatch der bisherigen Episoden auf – wenn euer Magen mitspielt.

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Zudem ist die Episode aber natürlich auch ein eindeutiges Statement bezüglich unseres technischen Fortschritts im Bereich der Kommunikationsmedien.

Ob Smartphone, Internet allgemein oder Facebook, Twitter und Instagram im Besonderen – die totale Vernetzung ist Segen und Fluch zugleich und führt zu einer Gleichschaltung der Gesellschaft, die auf schlichtes kollektives Funktionieren ausgerichtet ist. Carlton Bloom will im Kern beweisen, dass die Menschen das reale Leben verpassen, weil sie inzwischen primär online leben.

In einer bitterbösen Sequenz wird diese – sicherlich nicht weit hergeholte – These untermauert, als sich herausstellt, dass Prinzessin Susanna bereits eine halbe Stunde vor Callows TV-Auftritt unter starkem Drogeneinfluss (aber immerhin doch noch mit allen Fingern) freigelassen wurde und kulminiert somit in der erschreckenden Erkenntnis, dass alle so sehr damit beschäftig waren, das Geschehen online und im TV zu verfolgen (der Krisenstab eingeschlossen), dass man den Blick für die Welt außerhalb verlor. Armer Callow.

Somit beinhaltet die Tat von Bloom, der für sich aus nachvollziehbaren Gründen nach Vollendung seines Werkes den Freitod wählt, die kalkulierte Message, dass eine viel zu berechenbar gewordene Welt sich der Unberechenbarkeit eines technischen Fortschritts ausgeliefert hat, der viele schlicht und ergreifend intellektuell und emotional überfordert.

Will man sowas eigentlich sehen?


So real sich diese Bedrohung in Gänze auch anführt und so meisterhaft die Episode es schafft, dieses durchaus pikante Thema anzufassen, bleibt dennoch auch die Frage im Raum stehen, ob man eine Geschichte dieser Art wirklich erzählt bekommen möchte.

Worin unterscheiden sich die interessierten Zuschauer dieser Episode von den Zuschauern der Live-Übertragung? Klar: Das eine ist fiktives Real-Life während wir zuhause eindeutig und bewusst Fiktion schauen – doch muss man sich eben doch die Frage stellen, ob es da im Zweifelsfall wirklich einen Unterschied gibt. Wer würde eine solche Live-Übertragung wie sie hier erzwungen wurde in letzter Konsequenz denn bewusst nicht anschauen? Und wenn es nur wäre, um mitreden zu können? Weil es ein TV-Event ist? Weil man irgendwie mitfiebert? Oder ganz albern: Aus Sorge um die arme Prinzessin? Diese Frage muss letztlich jeder für sich beantworten – ehrlich oder nicht. Zu der Erkenntnis, die man bei diesem Denkvorgang erhält dann auch zu stehen, ist noch einmal eine ganz andere Liga.

Doch woran liegt es, dass wir zunehmend die Grenzen unserer emotionalen Belastbarkeit ausweiten?

In einer Welt, in der gewaltpornographische Auswüchse wie «Hostel» oder «The Hills have Eyes» ein durchaus großes Publikum finden und somit salonfähig geworden sind, sind wir inzwischen Gewalt und Sex in dermaßen großen Dosen ausgesetzt, dass eine Abstumpfung gar nicht zu vermeiden ist.

Dabei will ich hier nicht päpstlicher tun als ich bin. Ich selber habe nicht wenige Serien oder Filme konsumiert, die exakt diese Themen behandeln und vorgeführt haben. Ob es sich dabei um brutale und visuell aggressive Fantasy-Stoffe wie «The Walking Dead» oder «Game of Thrones», pseudo-historische Aufarbeitungen wie «Spartacus» oder vermeintlich intellektuell-unterbaute Reihen wie «Saw» handelt – geschenkt.

Die Faszination und Sogkraft des Abartigen ist groß. Und das Angebot wächst und wächst. Dennoch bilde ich mir noch ein, eine feine Linie zwischen geht noch und zu viel zu erkennen. Die Vergewaltigungsszene aus genanntem Alexandre Aja-Remake des gleichnamigen Craven-Films zum Beispiel erweckte in mir schlicht den Wunsch, den Regisseur direkt in die nächste Klapsmühle einzuweisen. Sich derart am Leid eines Menschen zu ergötzen und mit der Kamera draufzuhalten, übertrifft alles, was ich ertragen kann – und kann meiner Einschätzung nach keinem gesunden Geist entspringen. Und sei es auch ein fiktionales Werk mit Schauspielern. Nein, diesen Film habe ich nie zu Ende geschaut und im Nachhinein habe ich mich fast geschämt, überhaupt damit angefangen zu haben.

Doch ist das Gaffen dem Menschen durch seine gottgegebene Neugierde quasi in die Wiege gelegt worden. Hier regelt schlicht und ergreifend das Angebot die Nachfrage. Früher musste man für die Dosis sex on tape heimlich eine Videothek aufsuchen, heute reicht ein Internetzugang, Pay-TV oder Streaminganbieter. Früher drückten sich Menschen mit fragwürdigen Neigungen in dunklen Ecken herum, heute haben sie die Auswüchse dieser Neigungen auf ihren Dienst-Notebooks und reden dann später noch von strafrechtlich irrelevanten Grauzonen.

Technischer Fortschritt birgt immer viele Möglichkeiten – und Gefahren. Die Menschheit besitzt schlicht keine kollektive Intelligenz oder gar eine kollektive Sensibilität. Die Gefahren, die all unser Forscherdrang mit sich bringt, wird man niemals eindämmen können.

Doch wer beeinflusst hier am Ende des Tages eigentlich wen? Sind es die irren Künstler, die mit ihren wirren Ideen potentiellen Täter erschaffen und formen? Ist es die verkommene Gesellschaft, die Künstler zu immer neuen Ausdrucksformen animiert?

Ich befürchte: Die Denke beider Seiten ist am Ende einfach die Gleiche, nur die Kanalisierung dessen, was da im Kopf vorgeht, ist eine vollkommen andere. Der Eine erdenkt ein derartiges Szenario, schreibt es auf und macht daraus ein Buch, eine Serie, komponiert einen Song oder malt ein Bild. Der Nächste verbringt jahrelang in seiner Garage und ballert dann eines Tages in einem Kino um sich. In der Ausgangsbasis sind die Unterschiede aber eventuell so groß nicht. Sollte einem das nicht Angst machen?

Ende gut, alles gut


Zurück zur Handlung: Im fiktiven England haben sich ein Jahr nach den Geschehnissen die Wogen wieder geglättet. Prinzessin Susanna ist schwanger und erwartet gemeinsam mit ihrem glücklichen Volk die Ankunft des Royal Babys. Man vergisst, man macht weiter. Wie in «The Truman Show» ist danach eben auch direkt wieder davor. Das Leben geht immer weiter.

Die Entführung samt TV-Übertragung und Freitod des Täters wird von einigen Kreisen als künstlerische Leistung gewürdigt. Dass Initiator Carlton Bloom zudem noch als ehemaliger Turner-Preis-Gewinner bezeichnet wird (in der realen Welt ein durchaus relevanter britischer Kunstpreis) ergänzt die Ironie nur um eine weitere Facette. Man kann auf eine verdrehte Art und Weise sicherlich zustimmen, dass Bloom hier einen Sachverhalt aufzeigen wollte, der heutzutage gesellschaftlich bereits zu einem Problem geworden ist. Seine terroristische Tat, samt Entführung, Erpressung und der psychologischen Zerstörung eines Menschen, einer Ehe und zumindest der Integrität und dem Gewissen vieler Beteiligten ist jedoch auch eindeutig ein viel zu hoher und kein adäquater Preis.

In diesem Fall lobe ich mir dann doch Joseph Beuys und seine Fett-Ecke. Kann man blöd finden, tut aber wenigstens keinem weh.

Hintergrund

Im September 2015 wurde bekannt, dass der aktuelle britische Premierminister David Cameron im Rahmen eines Initiationsritus während seines Studiums einen sehr intimen Körperteil in den Mund eines toten Schweines stecken musste.
Serienproduzent Charlie Brooker hatte davon laut eigener Aussage beim Schreiben der Pilotepisode aber keine Kenntnis.
Premierminister Michael Callow ist noch immer im Amt, strahlt und winkt mit seiner Frau öffentlich in die Kameras und konnte seine Umfragewerte sogar um satte 3% steigern. Was so ein kleines Intermezzo zur Rettung einer Ikone doch alles bewirken kann. Ein Hohn und somit treffende Satire im Nebensatz. Tragisch für Callow ist jedoch die letzte Einstellung der Episode, die zeigt, dass hinter verschlossenen Türen keine Rede von Lächeln, Winken und Glück sein kann. Seine Ehe scheint irreparabel zerstört zu sein – von seiner Selbstachtung ganz zu schweigen. Nur wen interessiert das noch?

Somit bleibt am Ende eigentlich nur noch eine Frage offen: Wer hat eigentlich das arme Schwein gefragt, was es von der ganzen Sache hält? Und so ernst gemeint diese Anmerkung von mir auch ist, wäre die Beantwortung dann vermutlich doch wieder Stoff für eine gänzlich andere Episode einer gänzlich anderen Serie mit vielleicht dann auch wieder zu britischem Humor.

Fazit


Die Serie «Black Mirror» präsentiert mit ihrer Debütepisode die wohl perverseste Form von Erniedrigungs-Terrorismus der bisherigen TV-Geschichte. Die Bilder und Gefühle, die beim Zuschauer im Kopf entstehen, bevor alle Beteiligten innerhalb der Handlung das Ausmaß der Situation überhaupt in vollem Umfang erkennen können, hallen lange nach und ziehen eine wahre Flut von Gedanken mit sich. Nichts für schwache Nerven und definitiv auch nichts für Zuschauer mit schwachem Magen. Dafür aber zum Nachdenken anregendes TV – und das ist in der heutigen Zeit immer willkommen.

«Black Mirror» steht bei Netflix zum Abruf bereit – außerdem wiederholt RTL Crime die Episoden ab 15. Januar zu verschiedenen Uhrzeiten und an verschiedenen Tagen.

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