Die Kino-Kritiker

«Mr. Holmes»

von

Berührend: Ian McKellen spielt in «Mr. Holmes» einen an ersten Anzeichen der Demenz erkrankten Sherlock Holmes, der sich mit aller Kraft an einen wichtigen Fall zurückerinnern will.

Filmfacts «Mr. Holmes»

  • Regie: Bill Condon
  • Produktion: Anne Carey, Iain Canning, Emile Sherman
  • Drehbuch: Jeffrey Hatcher , basierend auf "A Slight Trick of the Mind" von Mitch Cullin
  • Darsteller: Ian McKellen, Laura Linney, Hiroyuki Sanada, Milo Parker, Hattie Morahan, Patrick Kennedy
  • Musik: Carter Burwell
  • Kamera: Tobias A. Schliessler
  • Schnitt: Virginia Katz
  • FSK: ab 0 Jahren
  • Laufzeit: 104 Minuten
Was passiert, wenn ein Mensch, der sich Zeit seines Lebens über seinen Intellekt und seine faktenorientierte Analysefähigkeit definierte, im hohen Alter den Wert der Emotionen und der Fiktion zu erkennen hat? Und das, während allmählich die Senilität an seinen grauen Zellen nagt? Die Antwort ist: Es entfaltet sich eine dramatische sowie rührende Geschichte – die in den Händen des Regisseurs Bill Condon dennoch unterhält und inspiriert. Aber nicht nur die versierte, gemächliche Inszenierung Condons lässt «Mr. Holmes» über populistischen Unsinn wie «Honig im Kopf» hinauswachsen. Vor allem ist es die Verquickung aus einer begnadeten Darbietung des Schauspiel-Urgesteins Ian McKellen einerseits und einer so simplen, wie genialen Grundidee andererseits, die diesen Film so stark machen. Denn der titelgebende, alternde, brillante Geist, der hier mit seiner eigenen Fehlbarkeit und Vergänglichkeit konfrontiert wird, ist niemand Geringeres als Meisterdetektiv Sherlock Holmes – und damit geht eine enorme Fallhöhe für den Protagonisten einher!

Das Jahr 1947, irgendwo in der saftig grünen Provinz Englands: Der mittlerweile 93-jährige Misanthrop Sherlock Holmes fristet ein selbst gewähltes Dasein in der Abgeschiedenheit. Zu den wenigen Kontakten, die er hegt, zählen sein immer häufiger vorbeischauender Arzt sowie seine Haushälterin, mit der er kaltschnäuzig interagiert. So etwas wie Sympathie hegt Holmes nur noch für einen Menschen: Roger, den Sohn der Haushälterin, der von Holmes‘ kognitiven Fähigkeiten und seinem umfassenden Wissen begeistert ist. Roger lässt sich daher auch in die Geheimnisse der Holmes‘ so wichtigen Bienenzucht unterweisen – und er schnüffelt in den Unterlagen des früheren Privatdetektives. Dieser schreibt, in einem äußerst gemäßigten Tempo, seine Erinnerungen an einen besonderen Fall nieder, den er vor mehreren Jahrzehnten angenommen hatte. Dieser ereignete sich, nachdem sein Assistent Watson ein eigenes Leben begonnen hat und konfrontierte Holmes mit dem Rätsel um eine junge Dame, die sich zunehmend von ihrem Ehemann entfremdet ...

Da Holmes‘ Erinnerungsvermögen jedoch immer gravierendere Lücken aufweist, muss sich Roger in vorbildlicher Geduld üben, während er auf neue Absätze dieser Niederschrift wartet. Holmes indes nähert sich der vollkommenen Verzweiflung: Er hat nur noch vage Erinnerungen, weshalb ihm dieser Fall überhaupt so viel bedeutet, dass er ihn in eigenen Worten festhalten möchte. Um der drohenden Senilität entgegenzuwirken, experimentiert Holmes mit dem sagenumwobenen Anispfeffer, den er sich in Japan besorgt hat. Auf der strapaziösen Japan-Reise musste Holmes aber erkennen, wirklich nicht mehr voll auf der Höhe zu sein …

Bill Condon bringt diese auf dem Roman ‚A Slight Trick of the Mind‘ basierende Geschichte mit einer Gemächlichkeit auf die Leinwand, wie sie bei einem Film über einen grübelnden 93-Jährigen in der grünen Provinz zu erwarten steht. Diese Trägheit, die auch in der sensibel-behäbigen Musik von Carter Burwell Ausdruck findet, bedeutet jedoch nicht, dass in «Mr. Holmes» steter Stillstand herrscht. Condons minutiöse Regieführung ist es zu verdanken, dass auch in den ruhigsten Szenen beiläufig Unmengen an Informationen über die Figuren vermittelt werden und obendrein die zahlreichen, eng verknüpften Themen des Films ihre dramatische Tragweite entfalten können. «Mr. Holmes» wird dabei aber zu einem Werk der reinen Depression: Mit britischem Understatement verleihen Condons Inszenierung, McKellens Performance und das alle drei Erzählebenen clever zusammenführende Skript von Jeffrey Hatcher dieser Argumentation über den Wert der Fiktion und dem Verhältnis zwischen Intellekt und Emotion durchaus auch trockenen Witz.

Kameramann Tobias A. Schliessler fängt diese gehaltvolle, dennoch nicht verkopfte Erzählung in eleganten, detailreichen Bildern ein, welche sich vor allem Ian McKellens enormer Leistung unterwerfen: Die Schauspiellegende gibt ganz bewusst nicht „Sherlock Holmes, die Ikone“, sondern eine komplexe, in sich gekehrte, übermäßig stolze Persönlichkeit, die im hohen Alter endlich Selbsterkenntnis wagt. Doch auch McKellens Ko-Stars überzeugen: Allen voran der Jungschauspieler Milo Parker, als aufgeweckter, neugieriger Bursche, der durch Holmes‘ Einfluss lernt, aber auch an übertriebenem Selbstbewusstsein gewinnt. Laura Linneys Haushälterin ist dagegen zwar oft nur Stichwortgeberin, trifft in ihren emotionaleren Momenten jedoch den Nagel auf den Kopf, und Hattie Morahan als Fragen aufwerfende Ann Kelmot sowie Hiroyuki Sanada als Mr. Umezaki wissen, in ihren gemeinsamen Szenen mit McKellen dem «Herr der Ringe»-Nebendarsteller Paroli zu bieten. Und so ergibt sich, zumindest für den geduldigen Zuschauer, ein ungewöhnlicher Sherlock-Holmes-Film, bei dem die große Frage lautet: „Wird er sich noch erinnern, oder stirbt er vor seiner Zeit?“ Und diese Frage ist spannender, als es zunächst den Anschein hat!

Fazit: Bill Condon hat endlich wieder den Dreh raus! Der Brite erschafft mit «Mr. Holmes» eine kluge, einfühlsame und schöne Erzählung über das Älterwerden und über persönliche Geschichten, die wir für uns selbst immer wieder rekonstruieren müssen.

«Mr. Holmes» ist ab dem 24. Dezember 2015 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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