360 Grad

The Extra Mile

von

Julian Miller fehlte es bei der hiesigen Berichterstattungen über die Terroranschläge in Frankreich an Einordnung und Kontextualisierung. Fündig wurde er in der amerikanischen Presse.

Es wird ja seit langem viel darüber geschrieben, dass gerade im Online-Journalismus die Einordnung fehle, dass nur noch schnell die News rausgehauen werden und der Leser mit diesem Wust an Informationen dann weitgehend alleine dastehe. Es werde nur noch herumgemeint und zu wenig recherchiert, und was dabei herauskommt, sei meistens oberflächlich und nur selten wirklich relevant, geschweige denn fundiert. Ein Schuldiger ist ebenso schnell ausgemacht: Wahlweise sind es die Manager der Online-Angebote, die sich nur an der Klicks-ergo-Profit-Kausalität entlanghangeln und in jedem schlecht rezipierten Segment den Rotstift ansetzen, Qualität hin oder her. Oder die Suchmaschinen, die diese Tendenz maßlos befeuern. Oder die Leser, die zu doof sind, das zu erkennen und in ihrem Rezipientenverhalten nicht entsprechend gegenzusteuern.

Dem Fernsehen wird Ähnliches nachgesagt. Nicht nur von den Intelligenzallergikern, die in Dresden und anderswo „Lügenpresse“ skandieren, sondern auch in wohlunterrichteten Fachkreisen. Belege für entsprechende Thesen sind ebenso schnell gefunden: Unzulänglichkeiten bei den privaten Spartensendern zum Beispiel, etwa als N24 bei den Anschlägen von Boston ohne mit der Wimper zu zucken weiter seine Dokus abnudelte. Oder das Notprogramm, das Sat.1 seit Jahren in seinem – bis auf die mäßigen Hauptnachrichten de facto kaum vorhandenen – News-Segment fährt. Oder bei RTL, das zwar mit Sendungen wie «RTL aktuell» und dem «Nachtjournal» durchaus eine ordentliche Berichterstattung zeigt, sich jedoch fast ausschließlich mit dem bloßen Berichten begnügt und tiefergehende Einordnungen vermissen lässt.

Da müssten eigentlich die Öffentlich-Rechtlichen gegensteuern. Und trotz eines breiten – und sicherlich auch qualitativ zumeist sehr überzeugenden – Angebots an Nachrichtensendungen, Dokumentationen und Reportagen, kann man auch hier genug Gründe finden, mit der Berichterstattung manchmal unzufrieden zu sein. Zum Beispiel mit der dort herrschenden Scheu vor meinungszentrischen Darstellungsformen, wenn sie abseits der Spielformen Satire, Reportage, Talk-Show oder eines Maßanzug tragenden Mannes in den «Tagesthemen» stattfinden sollen, dessen vorgelesene Texte meist so austauschbar sind wie die Krawatten, die er beim Ablesen vom Teleprompter tragen muss.

Im Internet wollte es Krautreporter besser machen, indem es sich unabhängig von Vermarktungsstrategien und somit auch von Klickzahlen machte, um sich allein dem Leser verpflichtet zu fühlen. Sicherlich ließe sich kontrovers darüber diskutieren, ob die damit verbundenen Ansprüche auch erfüllt werden.

Ein Thema, bei dem der gemeine Medienkonsument – auch der politisch Interessierte – in diesen Tagen sicherlich der Hilfe umfassender Einordnung und umfangreicher Hintergrundberichte bedarf, sind die jüngsten Terrorakte in Frankreich gewesen. Betrachtet man die Berichterstattung der Massenmedien, also der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten, der privaten Vollprogramme wie der Spartensender und der großen Print- und Online-Outlets, lässt sich zweifelsohne feststellen, dass auch umfassend berichtet wurde. Im unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Anschläge informierten Live-Ticker kompetent und aktuell über den Gang der Ereignisse und Artikel und Fernsehbeiträge über die Bedeutung für die gesellschaftliche und politische Situation in Frankreich, Deutschland und Europa, die Zusammenhänge zu ISIS, Al-Kaida und ähnlichen Organisationen ließen sich zuhauf finden, in verschiedenen Variationen mit verschiedenen Blickwinkeln und Schwerpunktsetzungen. Pflicht erfüllt, Haken dran.

Gefehlt hat es dagegen – zumindest in Deutschland – oft an einer Kontextualisierung der Ereignisse mit ihren unmittelbaren Hintergründen in der langen Geschichte des Terrors in Frankreich. Ein Thema, das, was die Klickzahlen angeht, wahrscheinlich nicht sonderlich zugkräftig gewesen wäre, schließlich müsste ein entsprechender Bericht ohne die Buzzwords ISIS und Al-Kaida auskommen und sich stattdessen an hoch komplexen Ereignissen und Zusammenhängen abarbeiten, die noch dazu zu weiten Teilen mehrere Jahrzehnte zurückliegen und im kollektiven deutschen Gedächtnis kaum vorhanden sind. Trotzdem stehen sie in einem kausalen Zusammenhang zu den jüngsten Anschlägen.

Zumindest der Krautreporter, der hinsichtlich seiner wirtschaftlichen wie publizistischen Ausrichtung und journalistischen Grundauffassung geradezu prädestiniert für jenes Thema wäre, hat mich in diesem Punkt bisher schwer enttäuscht. Sicherlich waren Victoria Schneiders dort veröffentlichte Vor-Ort-Berichte interessant zu lesen; sie hätten aber auch ins Portfolio eines beliebigen größeren Online-Angebots gepasst.

Fündig geworden bin ich dagegen – europäische Leser mögen ein „Ausgerechnet!“ hinzufügen – in der Dauerbeschallung amerikanischer Cable-News. Genauer gesagt bei einem hervorragenden Beitrag in der «Rachel Maddow Show» bei MSNBC. Denn dort wurde man nicht nur pflichtbewusst auf dem Laufenden gehalten, sondern sah eine detaillierte, aufwendig recherchierte Einordnung, die über ein Aneinanderreihen der Buzzwords und offensichtlichen Beobachtungen weit hinausging. Schade, dass es in Deutschland derzeit kaum Vergleichbares gibt.

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