Fernsehfriedhof

Der Fernsehfriedhof: „Wollt Ihr die totale Talkshow?"

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Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 281: Christoph Schlingensiefs „Leichenfledderei” am toten Fernsehen.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir einer Produktion, die verdeutlichte, wie dünn die Grenze zwischen Kunst und Trash sein kann.

«Talk 2000» wurde am 16. September 1997 bei RTL geboren und entstand zu einer Zeit, als der Regisseur und Künstler Christoph Schlingensief mit seinen Werken wiederholt für Schlagzeilen sorgte. Unter anderem war er durch seine Spielfilme «Das deutsche Kettensägenmassaker» oder «Terror 2000» aufgefallen, denen Geschmacklosigkeit und Gewaltverherrlichung vorgeworfen wurde. Für Furore sorgten darüber hinaus seine Arbeiten an der Berliner Volksbühne, in denen er sich mehrfach gegen die Regierung von Helmut Kohl aussprach. Diese Aktionen fanden ihren vorläufigen Höhepunkt, als er im Zuge einer Performance auf der documenta ´97 dazu aufrief, den damaligen Bundeskanzler zu töten. Ziel all dieser Aktionen war es, - stark verkürzt ausgedrückt - mithilfe gezielter Provokationen das Augenmerk auf gesellschaftliche Missstände und soziale Fehlentwicklungen zu lenken.

In diesem Kontext muss auch sein nachfolgendes Projekt verstanden werden, in dem er sich der Dekonstruktion von Talkshows widmete. Für ihn stellte dieses Genre das „Aushängeschild jedes konsumorientierten Programms" dar, welches „das unpersönliche, das unseriöse, das schlichtweg unwahre Fernsehen" symbolisierte. Er beabsichtigte daher, „das Finale des fernsehgerecht aufbereiteten Geplappers" herbeizuschwören und „das Fernsehen mit den Mitteln des Fernsehens zu demaskieren und zu überwinden". Letztlich erklärte er das Medium für tot und konnte deshalb der “Leichenfledderei nach Lust und Laune frönen”.

Schlingensief selbst übernahm die Moderation der Sendung, obwohl er diesbezüglich über keinerlei Erfahrungen verfügte. "Ich beweise immerhin, dass jeder Depp Talkmaster werden kann", begründete er diese Entscheidung. Entsprechend chaotisch ging es in den einzelnen Ausgaben zu, die innerhalb weniger Tage in der Kantine der Volksbühne entstanden. Er war absichtlich nicht auf seine Gäste vorbereitet, stand unverhofft auf, ließ seine Gäste allein auf der Bühne, rief während der Aufzeichnung dazu auf, ein Nickerchen zu machen, prügelte sich mit Zuschauern oder schrie mit angedeutetem Hitler-Bärtchen in Richtung Publikum „Wollt Ihr die totale Talkshow?».

Jede Folge stand unter einem inhaltlichen Thema, das jedoch stets so gewählt war, dass es beliebig und austauschbar blieb (u.a. „Neuanfänge" oder „Moral in Deutschland"). Dazu wurden meist zwei prominente und oft ahnungslose Gäste geladen, mit denen Schlingensief versuchte, bewusst kein gehaltvolles Gespräch zu führen. Obwohl im Vorfeld zahlreiche Personen wie Rex Gildo, Heino, Ulrich Wickert und Udo Jürgens abgesagt haben sollen, trauten sich mit Harald Schmidt, Hildegard Knef, Gerhard Berger, Udo Kier, Konrad Kujau, Gotthilf Fischer, Rolf Eden und Lilo Wanders erstaunlich viele bekannte Gesichter in den Keller des Berliner Theaterhauses. Sie alle nahmen auf einer Ledercouch Platz, die zusammen mit einem weiteren Sessel, in dem Schlingensief saß, auf einer rotierenden Scheibe stand, sodass sie sich wie ein Mikrowellenteller drehte. Eine weitere Metapher dafür, dass die Sendung durchdrehen und ins Leere laufen sollte.

Vieles was dann dort passierte, war allerdings eher chaotisch als skandalös und wirkte zuweilen unbeholfen-dilettantisch, statt satirisch und bissig. Dies lag nicht zuletzt daran, dass sich das Genre mit seinen Daily Talks längst selbst karikiert hatte. Was zu jener Zeit im nachmittäglichen Programm gezeigt wurde, unterschied sich letztlich kaum noch von Schlingensiefs Überzeichnung. Ein großer kultureller Schock war also im Grunde von vornherein gar nicht mehr möglich. Dennoch schaffte er es, drei kleinere Eklats zu erzeugen.

In einer Ausgabe hatte er Rudolf Moshammer unter dem Vorwand eingeladen, mit ihm über Tiere sprechen zu wollen, lenkte die Unterhaltung aber stetig auf die Existenz von sechs Millionen Arbeitslosen in Deutschland. Dies endete schließlich darin, dass er erneut die Ermordung von Helmut Kohl forderte. Obwohl die Sendung unter dem Schutz der Kunstfreiheit stand, wurden jene Passagen bei der TV-Ausstrahlung und in der späteren DVD-Veröffentlichung vorsorglich überpiept - wohl auch aus Rücksichtnahme auf Moshammer.

In einer anderen Episode warf er der unvorbereiteten Beate Uhse die Verbreitung von HIV vor, weil die Darsteller in ihren Pornofilmen keine Kondome tragen würden. Uhse war auf solche Angriffe sichtlich nicht vorbereitet und verstand den provokativen Tenor dahinter nicht. Ihre Angehörigen ließen deshalb die Veröffentlichung der entsprechenden Folge auf der DVD-Box verbieten. Ähnlich überrumpelt wurde die Schauspielerin Ingrid Steeger, dessen früheren Ehemann Dieter Wedel Schlingensief als "Schwein" bezeichnete. Anschließend ließ er sie mit einem Mann mit einer geistigen Behinderung allein zurück, bevor er scharenweise schlechte Star-Imitatoren auf die Bühne holte und seine Gastgeberrolle schließlich an eine wahllose Zuschauerin abgab. Nach dieser Serie von (aus Steegers Sicht) Frechheiten verließ sie wütend den Saal und beschimpfte Schlingensief als „Arschloch" und „dummen Wichtigtuer".

Dass ein solches Vorhaben überhaupt im Programm des Mainstreamsenders RTL stattfinden konnte, lag an der Drittanbieter-Regelung, welche große kommerzielle TV-Anstalten verpflichtet, einen Anteil ihrer Sendezeit für unabhängige Produzenten zur Verfügung zu stellen. Dadurch hatte zu jener Zeit KANAL 4, ein Unternehmen, das aus der Videokunstszene hervorging, einen regelmäßigen Slot am späten Sonntagabend zugesprochen bekommen, dessen Inhalt es völlig frei festlegen konnte und sich entschied, dort Schlingensiefs einmaliges Projekt zu zeigen. Ein großes Publikum erreichten die Aufführungen - wenig verwunderlich - nicht und die Reaktionen fielen - erwartungsgemäß - gemischt aus. Während das Feuilleton die Arbeit feierte, bemängelten andere Autoren ihre Konzept- und Morallosigkeit. Trotzdem wurde die gesamte Produktion direkt im Anschluss noch einmal in Sat.1 wiederholt, wo KANAL 4 über ein weiteres Programmfenster am späten Montagabend verfügte.

«Talk 2000» wurde am 02. November 1997 beerdigt und erreichte ein Alter von acht Folgen. Die Show hinterließ den Moderator Christoph Schlingensief, der mit «U3000» und «Freakstars 3000» sowohl bei MTV als auch bei VIVA zwei weitere anarchistische TV-Reihen erhielt. Darüber hinaus parodierte er das Reality-Format «Big Brother», indem er im Jahr 2000 in der Stadt Wien einen Container voll Asylbewerber aufstellte und das Publikum darüber abstimmen ließ, wer abgeschoben werden sollte. Außerdem inszenierte er zahlreiche Theaterstücke, bis er im Sommer 2010 an Lungenkrebs starb.

Möge die Show in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am kommenden Donnerstag und widmet sich dann dem schrulligen Assistenten des berühmtesten Fernsehhunds Deutschland.

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