360 Grad

We the People

von

Julian Miller fragt sich in der neuen Ausgabe seiner Kolumne, ob es guten People-Journalismus überhaupt geben kann.

Ich bin eigentlich nicht der Typ für den Boulevard. Das heißt nicht, dass ich Fast-Food-Unterhaltung per se ablehnen oder verwerflich finden würde. Billig nachgestylte Brillen, der «taff»-Move quer durch alle Länder der Welt, die neuesten Handtaschentrends und Einspielfilme über knuffige Welpen – das ist vielleicht nicht der Gipfel mitteleuropäischer Fernsehkultur, aber harmlos. Und, ich gebe es zu, zeitweise ja auch ganz nett anzusehen. Jeder hat so seine Guilty Pleasures.

Aber bei mir hört es auf, wenn es an den Punkt kommt, wo im Dreck gewühlt wird. Wenn man sich zum Erfüllungsgehilfen der Abschieß-Photographen macht, indem man ihre Bilder zeigt, die Personen – ja, auch Personen des öffentlichen Lebens – im Vollsuff oder im privaten Umfeld zeigen, und ersichtlich ist, dass besagtes Bildmaterial bei 24-Stunden-Belagerungen entstand, die dem Promi das Leben zur Hölle machen.

Oft entsteht daraus, vor allem in Amerika, wo die Gesetzeslage für jene „Journalisten“ entspannter als hierzulande ist, ein Teufelskreis. Der Promi hält den Wahnsinn nicht mehr aus, der damit einhergeht, jeden Morgen beim Gang zur Mülltonne in Jogginghose von irgendwelchen Aasgeiern mit Teleobjektiv abgelichtet und nach dem einen oder anderen Gläschen Wein zu viel von ihnen auf Schritt und Tritt verfolgt zu werden, und flüchtet sich in die bekannten Suchtmittel, was wieder eine neue Geschichte anfeuert: Wie konnte es bei dem nur so weit kommen? Natürlich fragt man das dann immer in einem recht besorgten Tonfall. Man will ja nicht wie ein rücksichtsloser Opportunist wirken, dem jedes Mittel recht ist, um die Auflage oder die Quote in die Höhe zu treiben.

Auch die harmloseren Boulevard-Magazine, etwa «taff» bei ProSieben, scheinen nicht ganz auf diese Pseudo-Mitleidsgeschichten verzichten zu können: Ich wollte vor ein paar Monaten mal ein Experiment machen. Eine Woche lang «taff» gucken und sehen, wie es einem damit so geht, mit dieser leichtfüßigen Mischung aus Lifestyle-Lappalien und Hipstertum. Bereits der erste Beitrag, den ich sah, handelte aber von den „Alkoholabstürzen der Promis“. Gezeigt hat man dann hauptsächlich TMZ-Archivmaterial von stockbesoffenen C-Hollywood-Stars, die nach durchzechten Nächten mehrere Versuche brauchen, um in ihre hübschen Limos einzusteigen. Ich habe abgeschaltet.

Eigentlich kann es ja gar keinen guten People-Journalismus geben. Auch wenn manche People da selbst mitmachen. Denn was man in diesem Genre am liebsten erzählt, sind Verfallsgeschichten, vom Abstieg in die Betty-Ford-Klinik, von der vierten Scheidung in zwei Jahren, vom Weinkrampf in der Öffentlichkeit, weil man dem Druck nicht mehr standhält. In kleinerem, erträglicherem Umfang geht es dann gerne um „Styling-Unfälle“, wenn die Hollywood-Diva mit zwei kleinen Kindern im Schlepptau auf dem Weg ins Restaurant mal nicht so top gestylt ist wie man das von den Glitzerevents mit dem Champagnergläschen in der Hand und der millionenschweren Perlenkette um den Hals ins tief ausgeschnittene Dekolleté kennt – auch solche Privatbilder kann man ja in der Rotzpresse noch ausschlachten. Guck mal die Olle, die sin' ja fast so wie wir auch, wa, wenn erstmal die Schminke ab is'. Sätze, die man sonst vor dem Affenhaus im Zoo hört, hört man auch in den Zeitschriftenabteilungen aller großen Kaufhäuser, wenn sich die Kunden durch "Gala" und "Bunte" wühlen. Oder zu Hause «Prominent!» gucken.

Man muss es einem Format wie «taff» zugute halten, dass es nicht nur in diesem Sumpf wühlt und dieses Element sogar eher ein Randaspekt der Sendung ist. Da geht es bei den «Exklusiv»- und «Punkt 12»-Kollegen von RTL noch deutlich schlimmer zu. Aber jede Dosis davon ist eigentlich schon zu hoch.

An die Heuchelei von Publikationen wie der «Bild» reicht sowieso niemand hin: Kürzlich führte man mit der von «The O.C.» bekannten Mischa Barton ein Interview über ihr Leben als Star sowie über ihre Exzesse und Abstürze in der Vergangenheit. „Wie konnte es so weit kommen?“, war wieder mal das pseudo-mitleidige Leitmotiv des Artikels. Barton begründete all die Entgleisungen damit, dass man als Star in Los Angeles eben vierundzwanzig Stunden unter Beobachtung steht, an jeder Straßenecke von Papparazzi abgeschossen wird und diesen Zirkus irgendwann nicht mehr aushält. Verständlich.

Und wie bebilderte «Bild» den Artikel? – Neben Photos von roten Teppichen auch mit Schnappschüssen von besagten Abstürzen. Immer wieder erstaunlich, wie offensichtlich man doch heucheln kann.

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