Popcorn & Rollenwechsel

Animierte Abwechslung

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Mit «Chico & Rita» und «ParaNorman» laufen derzeit zwei Trickfilm-Geheimtipps in den hiesigen Kinos.

Jeder hat seine effektiven Reizpunkte. Manch einer dreht durch, wenn Süddeutsche "Chemie" "Kemie" aussprechen, mein höchst eigener Computerexperte könnte mich töten, weil ich noch immer nicht Linux nutze und ich bin zu ruchloser Gewalt bereit, wenn jemand Animationsfilme per se als Kinderfilme bezeichnet. Sonst sind wir doch auch alle so empfindsam, wenn ein Medium auf einen einzigen Inhalt reduziert wird: Es sind eben nicht alle Videospiele brutal, nicht jedes Buch ist ein intellektuelles Meisterwerk, nicht jede RTL-Sendung ist der reinste Reality-Schund. Wieso aber bekommen es manche Menschen nicht in den Kopf, dass animierte Geschichten unterschiedliche Altersgruppen ansprechen können?

In den vergangenen Jahren hat Ottonormaldurchschnittsidiot wenigstens ein Stück weit dazu gelernt. Oscar-prämierte Glanzleistungen wie «WALL•E» oder «Toy Story 3» machten auch dem letzten Deppen klar, dass Trickfilme die ganze Familie im Visier haben können und zum Teil den Eltern mehr bieten als den Kindern. Keine neue Erkenntnis, schließlich lässt sich dies auch über «Der König der Löwen» oder «Pinocchio» sagen, doch die Pixar-Filme haben sie nun mit Nachdruck ins kollektive Bewusstsein gerückt. Doch auch dies ist nur die halbe Miete. Denn es gibt auch Animationsfilme, die nicht für jeden gedacht sind, sondern sich sehr selektiv ihr Publikum ausgesucht haben.

Von diesen weniger massenkompatiblen Trickfilmen lassen sich momentan gleich zwei in den deutschen Kinos bewundern. Der am ehesten noch mit dem populäreren Animationsstoff artverwandte in diesem Duo hört auf den Titel «ParaNorman» und zielt insbesondere auf ältere Kinder ab sowie auf Horrorfans, die sich noch verzaubern lassen wollen. Der charismatische Stop-Motion-Film ist zum Bersten voll mit Genrehommagen, vom an John-Carpenter-Horror erinnernden Soundtrack über ein in bester «Grindhouse»-Manier alte Zombie-Filme veralberndes Opening hin zu einem schaurig-emotionalen Finale, wie es frühere Horrormeister aus den Zeiten, als der Gruselfilm noch eine düstere Romantik lebte, geliebt hätten.

Ungewöhnlicher dürfte den meisten Kinogängern derweil «Chico & Rita» anmuten, eine an Erwachsene gerichtete, komplexe Romanze, die 1948 in Havanna beginnt, wo der junge Jazzpianist in einem Nachtclub der temperamentvollen Sängerin Rita begegnet. Ihre Liebesgeschichte ist geprägt von Eifersucht, Betrug, großer Hingabe zur Musik und einer tief greifenden Faszination für den jeweils anderen. Wer "erwachsene Filme" oberflächlich definiert, wird an den gezeichneten Brüsten und Schamhaaren erkennen, dass dies kein Familienfilm ist, wer sich am Inhalt orientiert, bekommt eine dramatische, Jahrzehnte überdauernde und dennoch auch beflügelnde Liebesgeschichte serviert, die nebenher auch die Entwicklung des Jazz und Swing anreißt sowie ihren Hauptfiguren kaum einen einfachen Moment gönnt. Das Pacing der Gesamtgeschichte ist mitunter sehr sperrig, die einzelnen Szenen sprühen dafür mit ansteckender Musik und komplexen Figuren, die sich in fast schon tänzelnden Dialogen die Liebe schwer machen.

An den deutschen Kinokassen haben es «Chico & Rita» und «ParaNorman» mangels großer Namen und der begrenzten Zielgruppen leider sehr schwer. Doch jeder, der gute Animation und interessante Geschichten zu würdigen weiß, ohne jede Figur süß finden zu müssen, sollte das Programmkino seines Vertrauens aufsuchen, um sich davon zu überzeugen, dass es neben Pixars Oscarkandidaten, den lauten DreamWorks-Komödien, Disneys Trickmusicals und Kinderbespaßung im westlichen Animationsbereich noch völlig anders geartete Filme gibt.

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