Hingeschaut

«Schreie der Vergessenen»: Ambitioniertes Fernsehexperiment

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In der Stuttgarter Universität erscheinen wie von Geisterhand Hakenkreuze – sind Geister im Spiel?

Wagemut ist eine der letzten Eigenschaften, die man dem deutschen Privatsender ProSieben unterstellen möchte – aber im Falle des Mysterythrillers «Schreie der Vergessenen» führt kaum ein Weg daran vorbei: In einer bisher einmaligen Kooperation mit der renommierten Filmakademie Ludwigsburg hat ProSieben die Produktion des Erstlingswerkes von Absolvent Lars Henning Jung kofinanziert und sich sogar erweichen lassen, das Ergebnis zur besten Sendezeit am Donnerstagabend auszustrahlen. Ein durchaus gewagter Schritt für einen werbefinanzierten Sender mit Quotendruck, denn der riskante Genremix des vollkommen unbekannten Regisseurs ist nicht gerade dazu prädestiniert, die hollywoodverwöhnten Zuschauermassen zu begeistern.

Recht absurd klingt dann auch die Handlung des Films: In der Stuttgarter Uni tauchen während einer Preisverleihung wie von Geisterhand Hakenkreuze auf Fensterschreiben auf. Der junge Kommissar Thomas Bernau, solide gespielt von Vincenz Kiefer, der schon deutlich bessere Schauspielleistungen ablieferte, wittert einen Fall von rechtsradikalem Vandalismus, doch die Ermittlungen werden alsbald eingestellt. Bernau hält das aber nicht davon ab, Nachforschungen zu betreiben, die ihn auf die Spur eines ähnlichen Falles bringen: Bereits 13 Jahre zuvor gab es ein vergleichbares Vorkommnis, ebenfalls während einer Preisverleihung. Da Bernaus Vorgesetzter die eigenmächtigen Untersuchungen mit Zwangsurlaub bestraft, beschließt der Kommissar, sich noch einmal am Tatort umzuschauen.

Dort trifft er auf den Parawissenschaftler Professor Angerer – Charakterdarsteller Manfred Zapatka nimmt man den lieblos charakterisierten Geisterjäger nicht wirklich ab – und seine Mitarbeiter Marion und Oliver – toll verkörpert von Alina Levshin und Ralph Kretschmar –, scheinen eine schlüssige Erklärung zu haben: Ein Geist sucht die Universität heim. Der rationale Bernau glaubt sich zuerst im falschen Film, bis er dem Geist eines jungen Mädchens begegnet und schnell mittendrin ist in einem Komplott aus untoten Seelen, Zwillingsexperimenten während des Nationalsozialismus und zwielichtigen Universitätssponsoren, die offensichtlich mehr wissen, als sie zugeben wollen. Das hanebüchene Drehbuch wird nicht besser, als Ex-Germany‘s Next Topmodel Barbara Meier als taubstummes Medium Morgana Le Fey auf der Bildfläche erscheint und den Namen einer der Schlüsselgestalten der mittelalterlichen Artussage beschmutzt.

Doch das alles ist nicht weiter schlimm, denn am Ende darf sich der Zuschauer gewiss sein, solide Unterhaltung präsentiert zu bekommen. Und im Hinterkopf sollte immer die Tatsache präsent sein, dass es sich bei «Schreie der Vergessenen» um eine Low-Budget-Produktion sowie um einen Debütfilm, letztendlich also ein Fernsehexperiment, handelt – und dafür können sich sowohl die Spezialeffekte als auch die Besetzung sehen lassen. Einzelne Drehbuchschwächen wie die absolut irrationale Charakterisierung des Kommissars Bernau fallen letztendlich nicht ins Gewicht, denn der gewagte Genremix irgendwo zwischen Krimi und Mysterythriller funktioniert trotzdem. Einzig eingefleischte Mysteryfans sollten auf Abstand gehen oder «Schreie der Vergessenen» als netten Genretrash betrachten – und ProSieben sei angehalten, sich in Zukunft öfter auf derartige Experimente einzulassen.

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