Schlüter sieht's

«Schlüter sieht's»: Die Welt hinter «Twin Peaks»

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Aktuell zeigt arte die bahnbrechende US-Serie «Twin Peaks». Über die Geschichte eines TV-Phänomens…

Dass Fernsehen großartig und unglaublich einvernehmend sein kann, können wir anhand des aktuellen TV-Programms leider immer weniger erfahren. Zu einer solch großartigen TV-Erfahrung gehört die US-Serie «Twin Peaks», die in zwei Staffeln von 1990 bis 1991 produziert wurde und aktuell im deutschen Fernsehen auf arte als Wiederholung zu sehen ist. Das Format wurde von Mark Frost (späterer Drehbuchautor des Films «Fantastic Four») und Kult-Regisseur David Lynch kreiert – beide hatten quasi die alleinige kreative Herrschaft über dieses ambitionierte Projekt, das nicht nur inhaltlich viele Geschichten bereit hält.

In Twin Peaks, der titelgebenden Kleinstadt in den amerikanischen Bergen, wird die junge Laura Palmer ermordet aufgefunden. Der ansässige Sherriff wird schon bald von einem angereisten FBI-Agenten namens Dale Cooper unterstützt – und dieser passt mit seinen Eigenwilligkeiten und Marotten bestens in die Kleinstadt, die vor skurrilen Charakteren nur so überquillt: Nicht nur redet der FBI-Agent sein Diktiergerät mit dem Namen „Diane“ an und trägt es stets bei sich. Nein, bald zeigt sich in jeder Folge mehr und mehr, dass Lauras Mord nur die Spitze des Eisbergs war – und Anlass für die graduell fortschreitende Offenbarung von Intrigen, Doppelleben und Verbrechen, in die nahezu jeder Einwohner der Kleinstadt verwickelt ist.

Frost und Lynch kreieren einen unvergleichlichen und großen Cast, der schon von Beginn an vorhanden ist. Dieses Repertoire an Charakteren, das schon am Anfang geschaffen wird, dient den Produzenten für die gesamten zwei Staffeln zur Darstellung immer neuer Verwicklungen und Twists oder Cliffhanger, die in «Twin Peaks» erstmals im großen Stile ausgereizt wurden: Allein das Finale der ersten Staffel hält so viele Cliffhanger bereit wie kaum eine andere Serie überhaupt. Möglich wird dies durch die komplexe Verschachtelung multipler Handlungsstränge der Figuren. Diese sind zwar irgendwie miteinander verwoben, doch erst im Laufe der gesamten Serie wird erkennbar, auf welche Art und Weise. Letztlich lässt sich jedoch jeder dieser Storyfäden mit der alles übergreifenden Geschichte um den Tod von Laura Palmer verbinden – dies weiß der Zuschauer von Anfang an. Doch welche Rolle der jeweilige Charakter in diesem Verbrechen spielt, zeigt sich erst nach und nach: Dies macht es umso spannender, die nächste Episode anzuschauen.

«Twin Peaks» ist durch diese Story zwar komplex, aber durch David Lynchs Regiearbeit auch gleichzeitig simpel gehalten: Er reduziert den Raum der Handlung auf die Kleinstadt, die den unüberwindbaren Rahmen für die Erzählung bildet. Auch der Zeitrahmen ist während der gesamten Serie sehr eng gefasst – beispielsweise vergehen inhaltlich beim Übergang vom Ende der ersten zu Beginn der zweiten Staffel nur Sekunden. Jede Folge selbst erzählt lediglich die Geschehnisse eines oder zweier Tage in Twin Peaks. Die irrationale Anziehungskraft, die für den Zuschauer auch heute noch von der Serie ausgeht, hat auch mit dem Gespür für Bilder zu tun, das David Lynchs Werk generell durchzieht: Jeder Zuschauer kann sich auch heute noch an den zu Beginn des Intros gezeigten Waldvogel oder das Sägewerk erinnern, jeder wird mit «Twin Peaks» seine eigenen, fest eingebrannten Bilder verbinden – ob dies nun die tote Laura in der Plastikplane, der Riese in Coopers Schlafzimmer oder der vermeintliche Mörder ist. Die Macht der Bilder ist es, die uns fesselt.

Lynchs unkonventionelle Kameraarbeit fasziniert auch heute noch, obwohl die Serie eigentlich nach gängigen Konventionen völlig überholt wirkt: Sehr lange oder stille Einstellungen, wenige Schnitte und die kollektive, konstante Ähnlichkeit der Schauplätze würden im heutigen Fernsehprogramm sehr antiquiert wirken. Doch nicht ohne Grund ist «Twin Peaks» auch 20 Jahre nach seiner Ausstrahlung ein Kult für viele Fans und integraler Bestandteil der Popkultur – zuletzt gab es in einer Folge von «Psych» sogar eine Reunion alter Charaktere und einen Tribut an das Meisterwerk. Auch war das Videospiel «Alan Wake», das 2010 erschien, eine Hommage an die Lynch-Serie.

Dass dieses Projekt überhaupt zustande kam, verdanken wir Zuschauer unter anderem Bob Iger, dem damaligen Chef des US-Networks ABC, das die Serie finanzierte und ausstrahlte. Heute ist Iger der Chef des Entertainment-Giganten Walt Disney – damals setzte er sich fast als Einziger für die Ausstrahlung der eigenwilligen Serie ein, der sonst niemand in der Führungsetage einen Erfolg zutraute. Bedingung für Frost und Lynch war die alleinige Gestaltungsfreiheit ohne Einfluss von ABC: Iger stimmte zu – erst so konnte «Twin Peaks» gestaltet werden, wie es später auf den Bildschirmen erschien. Die Serie wurde mit ihrer ersten Staffel ein großer, unverhoffter Erfolg für den Sender.

Doch mit der zweiten Runde wollte ABC schnell den Mörder verkünden, um die Einschaltquoten nach oben zu treiben. Die Gestaltungsfreiheit, die das Format ursprünglich zu einem Erfolg gemacht hatte, ging damit verloren; Frost und Lynch mussten den Mörder von Laura Palmer gegen Mitte der zweiten Staffel enthüllen – laut Frost einer der größten Fehler ihrer Karriere. Übrig blieben der Misserfolg eines einstigen TV-Shooting-Stars und ein David Lynch, der nach zwei weiteren Fernseh-Versuchen diesem Medium endgültig den Rücken kehrte. Auf «Twin Peaks» will er heute nicht mehr angesprochen werden. Und da bei ihm die alleinigen Rechte für Charaktere und Serie liegen, gibt es auch kein Merchandise in Form von Büchern oder Comics, Videospielen oder neuen Filmprojekten mehr, das die Geschichte der Kleinstadt fortführen könnte. Dennoch war mit dieser Serie der Grundstein für den Mystery-Boom der 90er Jahre gelegt, der in «Akte X» seinen Höhepunkt finden sollte.

«Twin Peaks» bleibt ein Fremdkörper der TV-Unterhaltung, der nur allzu schwer in jegliche Genre-Schubladen einzuordnen ist. Die Serie bleibt insbesondere ein unvergleichliches Plädoyer für die kreative Freiheit von Fernsehschaffenden, denn sie zeigt das Potenzial großartigen Fernsehens, wenn Ideen so realisiert werden könnten, wie sie ursprünglich entstehen. Liebe Sender, lasst den Kreativen und Genies freie Hand: Dann gäbe es möglicherweise irgendwann einmal wieder eine solche TV-Revolution, wie sie «Twin Peaks» Anfang der 1990er Jahre darstellte.

Jan Schlüters Branchenkommentar beleuchtet das TV-Business von einer etwas anderen Seite und gibt neue Denkanstöße, um die Fernsehwelt ein wenig klarer zu sehen. Eine neue Ausgabe gibt es jeden Donnerstag nur auf Quotenmeter.de.

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