Hingeschaut

«Verzeih mir», darf ich vermitteln?

von
Julia Leischik weckt Emotionen, drückt auf die Tränendrüse und versöhnt Menschen – doch auf eine merkwürdige Art und Weise.

„Hallo – mein Name ist Julia Leischik. Würden Sie zwei Minuten mit mir sprechen?“ Die Mutter von Wencke hat sich darauf eingelassen. Dabei wirkt sie schier überwältigt von der «Verzeih mir»-Moderatorin, die gleich auch noch ein ganzes Kamerateam im Gepäck hat. Ein paar schnelle Schnitte später hat Julia Leischik Wenckes Mutter von dem Vorhaben ihrer Tochter unterrichtet: Sie möchte „Verzeih mir“ sagen – vor laufender Kamera. Natürlich kostet das Wenckes Mutter einige Tränen, natürlich ist sie völlig aufgelöst von der Videobotschaft, die Julia Leischik mitgebracht hat. Das Konzept geht also vollkommen auf. Denn warum sonst hätte Julia Leischik ein Kamerateam dabei, wenn sie nicht genau das sehen möchte? Fast schon in Erwartung der gefühlvollen Emotionen sitzt Julia Leischik den Menschen gegenüber, die sie für eine Versöhnung vor der Kamera gewinnen soll. Fast schon, als habe sie die überwältigende Gefühlsübermannung selbst herausgekitzelt. Fast schon, als habe sie persönlich auf die Tränendrüse gedrückt. Julia Leischik soll die Menschen wieder versöhnen. Natürlich geht das nicht ohne Tränen. Also hat sie selbstverständlich indirekt auf die Tränendrüse gedrückt – auf eine Art und Weise, für die auch Julia Leischik «Verzeih mir» sagen könnte.

Denn auch wenn sie sich als Moralapostel zwischen die verstrittenen Familienmitglieder stellt und den Versöhnungsengel mimt, den Weg zueinander finden die Menschen in der Sendung «Verzeih mit» meistens selbst. Und da hätte es die am Leid anderer ergötzende Inszenierung vor einer Fernsehkamera gar nicht erst bedurft. Julia Leischik ist vielmehr für das Wecken der Gefühle und tränendrüsigen Emotionen selbst jener zuständig, die abseits der TV-Sendung eher gefühlskalt bleiben. Und sie kriegt sie alle: Wenckes Mutter bricht in Tränen aus. Wencke selbst kann sich vor Freude, dass sich ihre Mutter, die sie in ihrer schwersten Zeit nach einer schweren Krebs-Diagnose regelrecht im Stich gelassen hat, wieder mit ihr versöhnen will, auch nicht zurück halten. Und Werner kommen schon die Tränen, wenn er davon erzählt, wie ihn seine mittlerweile erwachsenen Kinder verstoßen haben, weil über viele Jahre keinen Kontakt zu ihnen gesucht hat. Selbstredend sind natürlich auch Sohn und Tochter von Werner, die beiden Halbgeschwister übrigens, die vorher noch nichts voneinander wussten, sehr emotional.

Julia Leischik – so will es uns die Sendung klar machen – bringt diese Familienmitglieder wieder zusammen. Ganz auf eigene Faust und dafür geht sie auch gerne Umwege. Statt direkt Wenckes Mutter von ihrem Versöhnungswunsch zu erzählen, sucht sie erst noch Rat bei anderen Geschwistern, nur um die alte Frau dann doch vor der eigenen Haustür mit einem Kamerateam zu überrumpeln. Und auch beim Aufspüren von Werners erwachsenen Kindern irrt Julia Leischik durch ein Schwimmbad und auf dem Hof einer Autowerkstatt herum, nur um diese dann in einem Restaurant oder in der eigenen Wohnung mit der Videobotschaft ihres Vaters zu überraschen.

Wohlklingend wie die Titelmelodie von «Verzeih mir», für die „Shame“ von Robbie Williams und Garry Barlow ausgewählt wurde, so klingen auch jedes Mal die Worte von Julia Leischik, wenn sie versucht zwischen den Familienmitglieder zu vermitteln. Dabei wäre ihre Arbeit doch an der Stelle beendet, wenn ein versöhnliches Treffen anberaumt wurde. Dafür lässt Julia Leischik die Menschen vom Bahnhof einer Kleinstadt abholen oder in einem abgelegenen Park aufeinander treffen. Die Kulisse muss also auch stimmen, wenn Julia Leischik so zusagen die „Früchte ihrer Arbeit“ ernten möchte und die emotionsgeladene Versöhnung mit ins Bild rückt. Zu Gute halten muss man ihr, dass sie dabei doch für kurze Zeit auf Distanz geht. Erst nach wenigen Minuten kommt sie dazu und lässt sich als Versöhnungsengel den sprichwörtlich heiligen Schein aufsetzen. Den sehen die Zuschauer nicht, weil die Kameras immer noch in Detailansicht auf die tränenüberfluteten Gesichter der Menschen halten, die sich nach Jahren wieder versöhnt haben. Wer mag es ihnen vergönnen, dass sie ihren Gefühlen freien Lauf lassen - auch wenn die Kamera dabei ist.

Dass Julia Leischik samt Kamerateam aber in diesem sehr privaten und vor allem höchst emotionalen Moment nicht von ihnen ablassen, passt wunderbar zu der Titelmelodie, die sich die Macher von «Verzeih mir» ausgesucht haben. Denn in dem Song „Shame“ singen auch Robbie Williams und Garry Barlow sinngemäß: „Welch‘ eine Schande, dass wir uns nie zugehört haben. Ich habe es dir durch das Fernsehen gesagt.“ In etwa trifft das nun auch auf jene Familienmitglieder zu, denen Julia Leischik zur Versöhnung verholfen hat. Die Art und Weise wie dies geschah und die Tatsache, dass das Fernsehen für diesen Schritt seine Gefühlsmomente bekommt und sie mit der Sendung «Verzeih mir» ausschlachten darf, ist doch die eigentliche „Schande“. Julia Leischik, die zwischenzeitlich noch mit der Kamera spricht und so verloren gegangenes Interesse wieder wecken möchte, hat in ihren überkandidelten Versuchen die Menschen wieder zusammen zu bringen, nicht nur Nächstenliebe im Sinn und das Gespür für Sensibilität und Privatsphäre gänzlich vermissen lassen. Eine „Schande“ – und so ist das Vorspann-Intro der Sendung samt Titelmelodie noch das einzige, was wirklich zusammenpasst.

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