Hingeschaut

Warum ist «Aktenzeichen» so erfolgreich?

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Und wieso stehen Jüngere auf die ZDF-Sendung? Ein Quotenmeter.de-Redakteur macht den Selbsttest.

«Aktenzeichen XY…ungelöst» ist einer der größten Klassiker des deutschen Fernsehens: Seit 1967, vier Jahre nach dem Start des ZDF, werden Kriminalfälle mithilfe der TV-Zuschauer gelöst. In diesen Monaten und Jahren erlebt die Fernsehsendung ihren dritten Frühling: Unter Moderator Rudi Cerne, der für dieses seit mittlerweile über acht Jahren vor der Kamera steht, hat sich das Fahndungsmagazin zu einem Quotenrenner gerade bei den jüngeren Zuschauern zwischen 14 und 49 Jahren entwickelt – eine Zielgruppe, die dem ZDF normalerweise äußerst fern bleibt.

Die vergangenen vier Ausgaben erzielten jeweils zweistellige Marktanteile bei den sogenannten werberelevanten Zuschauern. Zum Vergleich: Im abgelaufenen Fernsehjahr 2009/10 schaffte es das ZDF im Durchschnitt auf gerade einmal 6,2 Prozent Marktanteil bei den Jüngeren. «Aktenzeichen» erreicht nahezu immer das Eineinhalbfache dieses Wertes – ein sensationeller Erfolg angesichts des starken Gegenprogramms am Mittwochabend, beispielsweise der UEFA Champions League, der ProSieben-Serien oder der RTL-Realitys. «Aktenzeichen» ist also ein außergewöhnliches Phänomen unter den ZDF-Sendungen. Wir fragen uns: Warum kommt dieses Konzept bei so vielen jüngeren Zuschauern an? Was ist das Erfolgsgeheimnis? Quotenmeter.de-Redakteur Jan Schlüter hat den Selbsttest gemacht und am Mittwochabend (08. Dezmeber 2010) die neueste Ausgabe eingeschaltet.

Schon zu Beginn präsentiert Rudi Cerne die wichtigsten Fälle der Sendung im Schnelldurchlauf – unter anderem kündigt er drei Mordfälle an, bei denen die Polizei wieder um die Mithilfe der Zuschauer bittet. Allgemein erweckt die Studio-Atmosphäre einen gewissen Live-Charakter: Im Hintergrund sitzen zahlreiche Telefonisten, die Anrufe der Zuschauer entgegennehmen, wenn diese mit sachdienlichen Hinweisen weiterhelfen können. «Aktenzeichen» wird mittlerweile komplett live gesendet – früher waren es nur die letzten Minuten, die über neue Hinweise der Zuschauer während der Sendung informieren.

Ein zentrales Informations- und Unterhaltungselement sind die Einspieler bzw. MAZen, in welchen der jeweilige Fall durch Schauspieler dargestellt wird. Zwar hat sich die inhaltliche Qualität dieser Filme gegenüber früheren Jahren deutlich verbessert, ist aber dennoch oft wenig überzeugend und wirkt laienhaft – teils schlechter gespielt, als so manche Scripted Reality oder Gerichtsshow. Die Tatsache, dass das Fahndungsmagazin im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ausgestrahlt wird, dürfte auch der Grund für das langsame Erzähltempo der jeweiligen Einspieler sein, welches man so vom Privatfernsehen nicht mehr kennt.

Positiv dagegen ist hervorzuheben, dass die Filme nicht stark werten oder dramatisieren: Sie beschränken sich auf die bloße Schilderung des Falls, des Opferprofils und der knappen Informationen. Betroffenheitscharakter und Empathie der Zuschauer werden dadurch hergestellt, dass die Opfer auch persönlich charakterisiert werden – beispielsweise wird im ersten Fall dargestellt, wie eine einsame Frau durch Internet-Chats den Kontakt mit möglichen Tätern herstellt. So werden Identifikationsmöglichkeiten und Emotionen geweckt. Dies geschieht allerdings nicht bei allen Fällen, sondern nur dort, wo die persönliche Charakterisierung auch relevant für das Verbrechen ist.

Nach dem jeweiligen Fall rekapituliert Rudi Cerne im Studio mit einem Experten der Kripo die Eckdaten und die wichtigsten Informationen. Grundsätzlich strahlt der Moderator in jeder Situation jene Souveränität und Ernsthaftigkeit aus, die es für die Präsentation einer solchen Sendung benötigt. Rudi Cerne ist ein großer Gewinn für den von Eduard Zimmermann geschaffenen Klassiker – er dürfte zu einem nicht unerheblichen Teil mitverantwortlich dafür sein, dass dieses Format nicht nur bei allen Zuschauern, sondern auch besonders beim jungen Publikum so erfolgreich ist. Er hat «Aktenzeichen» vom angestaubten Image befreit und mit der Sendung den Schritt ins moderne, zeitgemäße Fernsehen gewagt.

Ein Faktor für die Popularität der Sendung sind auch die immer wieder spektakulären Fälle, die oft schon im Vorfeld angekündigt werden. In der aktuellen Folge wurde beispielsweise ein regional sehr Aufsehen erregender Mordfall von 1993 wieder aufgerollt, in dem der Besitzer eines Schuhgeschäftes in seinem eigenen Laden ermordet wurde. Ebenfalls richten sich die Fälle vereinzelt an das Interessensspektrum der jüngeren Zuschauern: Es wurde beispielsweise über einen Großdiebstahl von zahlreichen E-Gitarren aus einem Musikgeschäft berichtet.

Was also ist nun das Erfolgsgeheimnis von «Aktenzeichen XY… ungelöst»? Eine klare Antwort gibt es nicht. Die Popularität besonders bei den 14- bis 49-Jährigen bleibt ein gewisses Phänomen, auch wenn es Erklärungsansätze gibt: Der moderne Charakter des Designs und des Studios, die teils spektakulären und ungewöhnlichen Kriminalfälle sowie der sympathische Moderator lassen die Sendung zwar nicht wie ein auf die Zielgruppe zugeschnittenes Format aus dem Privatfernsehen erscheinen, aber es schließt diese eben auch nicht aus (wie viele andere öffentlich-rechtliche Sendungen). Der Klassiker hat es geschafft, ein Fernsehprogramm für Jung und Alt gleichermaßen zu entwickeln – könnte man diese Erfolgsformel plausibel erklären, würde sie nur allzu oft Anwendung finden.

Zuweilen erwecken die Fälle, besonders die dazu gedrehten Einspieler mit professionellen Schauspielern, auch die Anmutungsqualität gewisser Crime-Dokus in Sat.1. Doch der Authentizitätscharakter ist bei «Aktenzeichen» ungemein größer: Kriminalgeschichten liebt jeder – umso mehr, wenn sie wie in diesem Falle echt sind und nicht der kranken Fantasie diverser Drehbuchautoren entspringen. Diese Mischung aus Krimi und Realität bekommt der Zuschauer nur in «Aktenzeichen XY… ungelöst» – ein Alleinstellungsmerkmal, das sicher ebenfalls ein elementarer Erfolgsfaktor ist. Und nicht zuletzt hilft das Format ja auch noch bei der letztlichen Aufklärung von Kriminalfällen: Laut ZDF-Statistik sind 42 Prozent aller geschilderten Taten im Anschluss aufgeklärt worden.

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