Serientäter

«Vongozero – Flucht zum See»

von

Eine Pandemie bricht mitten in Moskau aus. Der Staat versagt, die öffentliche Ordnung bricht zusammen. Eine kleine Gruppe von Menschen flüchtet aus der Stadt. Ihr Ziel liegt im Norden des Landes. Netflix hat die russische Serie still und heimlich ins Programm genommen. Offenbar wegen der höchst realen Pandemie jenseits der Fernsehgeräte. Sollte man trotzdem einen Blick riskieren?

Stab

DARSTELLER: Kirill Käro, Viktoriya Isakova, Maryana Spivak, Aleksandr Robak, Yuriy Kuznetsov, Natalya Zemtsova, Viktoriya Agalakova, Eldar Kalimulin

REGIE: Pavel Kostomarov
SHOWRUNNER: Roman Kantor, Aleksey Karaulov
KAMERA: David Khayznikov
MUSIK: Aleksandr Sokolov
PRODUZENTEN: Alekdandr Bondarev, Dzhanik Fayziev et al

8 Episoden á ca. 50 min
Der Zeitpunkt der Fertigstellung ist natürlich mehr als unglücklich. Wer schaut sich während einer höchst realen Pandemie schon eine TV-Serie an, deren Handlung während einer Pandemie angesiedelt ist? Die russische Produktion aus diesem Grund mit Missachtung zu strafen, wäre dennoch ein großer Fehler, denn was da aus den Weiten des russischen Hinterlandes regelrecht auf die Bildschirme kracht, ist absolut sehenswert und gehört im Grunde in die Liste des pandemischen Kinos in Corona-Zeiten. Auch und gerade, da die handelnden Charaktere äußerst menschlich und fehlbar wirken. Keine der handelnden Figuren nämlich besitzt Fähigkeiten, die im Rahmen einer recht derben, unaufhaltsam voranschreitenden, tödlichen Pandemie von Vorteil wären, um das eigene Überleben zu sichern. Sie sind normale Menschen. Das macht die Identifikation mit ihnen vergleichsweise einfach. Selbst in Momenten, in denen sie sich möglicherweise mal dumm verhalten, verdreht man nicht die Augen ob ihrer falschen Handlungen. Vielmehr stellt die Serie in solchen Momenten die Frage: „Und wie hättest Du dich verhalten?“

Im Zentrum der Serie steht Sergey. Sergey ist ein Enddreißiger mit einer Ex-Frau, Irina, mit der irgendwie klarkommen muss, da sie einen gemeinsamen Sohn haben, und einer Freundin, Anya, die mit Misha einen Teenagersohn in die Beziehung einbringt. Misha ist Autist. Behutsam bemüht sich Sergey eine Beziehung zu dem Jungen aufzubauen. Ein Freund von Sergey ist Lyonya. Der ist ein Businessman. Wie er genau zu seinem durchaus beruhigenden finanziellen Ruhekissen gelangt ist, wird nie erklärt. Dass er durchaus die richtigen Leute kennt, damit aber gibt er gerne an. Anya mag Lyonya nicht sonderlich, Sergey indes kommt gut mit ihm klar, auch, da Lyonya ihn offenbar wirklich mag, denn allzu viele echte Freunde scheint er nicht zu haben. Dafür hat er daheim Stress mit seiner Teenager-Tochter Polina, die es ihm übel nimmt, sich recht kurz nach dem Tod ihrer Mutter mit Marina eine Frau ins Haus geholt zu haben, die kaum älter als sie ist und die bald ihre Halbschwester auf die Welt bringen wird.

Dies also sind die Hauptfiguren und die erste Episode nimmt sich Zeit, diese Figuren zu etablieren. Zeit ist überhaupt in dieser ersten Episode ein Faktor. Die Krankheit, von der Moskau bald heimgesucht wird, kommt nicht in Form einer Zombieinvasion über die Stadt. Es fängt damit an, dass hier und da Menschen plötzlich schwere Hustenanfälle bekommen. Dann brechen erste Menschen mitten in der Stadt zusammen. Es folgen Gerüchte über enorme Sterblichkeitsraten, darüber, dass die Krankenhäuser überlastet sind. Es sind sich häufende Indizien, die die Gerüchte befeuern. Da ist etwa der Virologe im TV, der sich in einer Live-Sendung über Vertuschungen ereifert und kurzerhand abgedreht wird. Da ist die zunehmende Präsenz von Soldaten in der Stadt, die den offenbar überlasteten lokalen Behörden zur Seite stehen sollen. All das geschieht langsam. Bis sich die Gefahr nicht mehr verschweigen lässt – da die Staatsgewalt nicht mehr in der Lage ist, der ausbrechenden Pandemie Herr zu werden. Bricht ein Krankheitsfall aus, wird kurzerhand das gesamte Karree abgeriegelt. Wie viele Menschen sich in einem solchen Karree befinden? Egal. Auch die Schule von Irinas und Sergeys Sohn wird unter Quarantäne gestellt als ein Mädchen sich mit der Krankheit infiziert. Das Aufgebot an Soldaten spricht Bände. Mit einem Trick gelingt es Irina, ihren Sohn aus der Schule herauszuholen, während in der Stadt erste Unruhen ausbrechen. Es ist offensichtlich, dass die Lage vollkommen außer Kontrolle geraten ist. Und es ist auch keine Frage, dass sie irgendwie aus der Stadt hinaus müssen, wenn sie nicht infiziert werden wollen. Es ist keine Krankheitswelle mehr, die über Moskau hereinbricht – es ist ein Tsunami.

Verbrechen der Staatsgewalt
Zum Glück lebt Sergey als Nachbar von Lyonya in einem etwas vorgelagerten, durchaus wohlhabenden Vorort, in dem die Situation noch längst nicht die Dimensionen erreicht hat wie in Moskau, wo es zu regelrechten bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen zwischen Bevölkerung und Sicherheitskräften kommt. Von hier kommen sie noch weg. Und das müssen sie – denn auch hier sind sie nicht mehr sicher. Die Gefahr aber kommt nicht in Form des Virus daher. Es sind Polizisten, die in das Haus von Lyonya einbrechen. Zunächst tun sie dies, um ihn zu bestehlen. Es ist offensichtlich, dass er schöne, teure Dinge besitzt. Dann aber wird ein Polizist auf seine junge – attraktive – Ehefrau aufmerksam. Loynya wird zusammengeschlagen, dieser eine Polizist stürzt sich auf Marina. Bevor es jedoch zur Vergewaltigung kommt, ist er auch schon tot. Erstochen von Paulina, die sich ungesehen von hinten anschleichen und die Freundin ihres Vaters retten kann.

An diesem Punkt bleibt ihnen gar keine andere Wahl mehr als das Weite zu suchen. Aber wohin in einem Land, dessen Ordnung gerade offenbar auch jenseits der Städte zusammenbricht?

Auftritt Boris. Boris ist Sergeys Vaters. Ihr Verhältnis ist, milde gesagt, nicht sonderlich gut. Boris ist Alkoholiker. Außerdem ist da etwas passiert, als Sergey noch ein Kind war und das ihre Beziehung nachhaltig belastet hat. Boris aber hat vielleicht eine Antwort auf die Frage – wohin? Vor Jahren hat er an einem See in Karelien nahe der finnischen Grenze, am Wongozero (= Vongozero), ein aufgegebenes, auf Grund gelaufenes Boot entdeckt. Im Laufe der Jahre ist dieses Boot zu einem Hobby geworden. Zwar ist es nicht seetüchtig, allerdings hat er das Leck abgedichtet und das herrenlose Schiffchen zu einem Wohnboot umgebaut. Inklusive Solarzellen, die Strom liefern, und einer eigenen Wasserversorgung. Vor allem aber liegt das Boot an einem menschenleeren Ort am See, weit weg vom nächsten Dorf oder gar Städtchen. Wenn sie es bis dorthin schaffen, hätten sie einen weitestgehend sicheren Hafen. Das Problem: Auf ihrer Reise können sie sich nur auf Nebenstraßen bewegen. In einem Land wie Russland – ist dies schon in normalen Zeiten eine Herausforderung.

Die Geschichte einer Auflösung
«Vongozero» erzählt die Geschichte einer Auflösung. Obwohl der Fokus stets auf die Protagonisten gerichtet bleibt und diese sich in einem ländlichen Raum jenseits der Städte bewegen, ist die Auflösung des Staates eines der großen Themen der Serie. Politik in Person ziviler Entscheider findet nicht statt. So stellt sich irgendwann nicht die Frage, wer die Entscheidungen trifft, die die Menschen betreffen, sondern ob überhaupt noch jemand echte Verantwortung trägt. Wenn der Staat in Erscheinung tritt, dann in Form von Soldaten, die immerhin noch von irgendjemanden innerhalb einer Kommandostruktur Befehle empfangen, obschon offenbar niemand auch nur den Hauch einer Ahnung hat, was wirklich zu tun ist – oder in Form von Polizisten, die losgelöst von jeglicher Staatsgewalt Banditen gleich eine größere Gefahr für die Menschen darstellen als die Krankheit. Die wütet zumindest auf ihre Weise paritätisch. Obwohl es sich bei «Vongozero» um eine Serie über eine Pandemie handelt, orientiert sie sich inszenatorisch durchaus an amerikanischen Vorbildern á la «The Walking Dead».

Der große Unterschied: «Vongozero» hofft immerhin auf einen gewissen Anstand der einfachen Menschen untereinander. So ist das Zusammentreffen der Flüchtenden mit anderen Menschen nicht zwingend eines, das in einer Konfrontation „wir gegen die“ enden muss. Ja, in einem System, das untergeht, gibt es Gewalt. Viel Gewalt sogar. Aber immer wieder sind da auch Momente, in denen durchaus Menschlichkeit durchschimmert. Es mag eine Gesellschaft untergehen, nicht aber zwingend auch die Zivilisation. Nur wird dieses zivilisatorische Momentum eben nicht von denen aufrecht gehalten, denen diese Aufgabe durch ihren Stand im Staate anvertraut wurde. Aufrecht gehalten wird es von Menschen wie Sergey, der in gewisser Weise als Anführer der kleinen Truppe betrachtet wird. Er ist nicht laut wie Lyonya, er lässt sich nicht von seinen Gefühlen leiten wie seine Ex-Frau. Er ist der ruhende Pol, der langsam in die Rolle hineinwächst, die die anderem ihn übertragen haben.

Durch die Fahrt gen Norden befindet sich «Vongozero» in steter Bewegung. Einen echten Stillstand kennt die Geschichte nicht. Obwohl sich immer wieder Geschichten am Wegesrand abspielen, die auch am Wegesrand wieder ihr Ende finden, wirkt nichts an der Geschichte episodisch. Kilometer um Kilometer legen die Flüchtenden zurück, nicht immer als eine geschlossene Gemeinschaft. Es gibt Streit. Aber auch die Gewissheit, dass sie nur als Gruppe überleben können. Dass sie selbst auf diesem Weg nicht immer ethisch und moralisch korrekt handeln, macht die Charaktere glaubwürdig. Denn auch in solchen Momenten steht die Frage im Raum: „Wie würdest du in diesem Moment entscheiden?“

Fortsetzung?
Es ist bedauerlich, dass die Serie im wahrscheinlich falschesten Moment fertiggestellt worden ist, in dem sie fertiggestellt werden konnte. Eine Serie über eine Pandemie während einer echten Pandemie? Ganz schlechtes Timing! Der Umgang von Netflix mit der Serie spricht Bände. «Vongozero» wurde nicht synchronisiert. Die Serie ist nur im russischen Original mit deutschen Untertiteln zu sehen. Eine Pressearbeit fand hierzulande nicht statt, ja nicht einmal einen offiziellen internationalen Trailer gibt es. Der einzige greifbare Trailer ist eine Werbevorschau von einem Filmmarkt in Cannes, auf dem die Serie noch unter dem englischen Arbeitstitel „The Outbreak“ vorgestellt worden ist; dabei enthält dieser Trailer de facto nur Szenenmaterial der ersten Episode:



«Vongozero» wurde hochgeladen und steht nun irgendwie in den Untiefen von Netflix gelistet. Wenigstens in Russland scheint die Serie ein Publikum gefunden zu haben, die Kritiken aus dem Riesenreich sind positiv. Dort wurde sie nicht von Netflix ausgestrahlt, Netflix hat sich lediglich als Co-Produzent eingebracht und streamt die Serie außerhalb Russlands. Ob der Erfolg in Russland alleine ausreicht, der Serie eine zweite Staffel zu kredenzen? Bedauerlicherweise endet «Vongozero» nicht nur mit einem Cliffhanger. Im Grunde endet sie Serie mit gleich zwei Cliffhanger-Momenten. Ein Cliffhanger betrifft die handelnden Figuren selbst. Der zweite Cliffhanger jedoch betrifft eine Handlung, die mit der vorletzten Episode eingeführt wird. Es ist kein Kaninchen, das als Spannungsmomentum aus dem Hut gezaubert wird, um etwas Neugierde zu erzeugen. Es ist vielmehr ein Momentum, das schon in seiner recht aufwendigen Inszenierung belegt, dass hier die Handlung der zweiten Staffel eingeführt wird. Eine große Handlung, eine überraschende Handlung – eine Handlung, die das Zeug hätte, ein echter Kracher zu werden. Diese Serie hätte eine zweite Staffel verdient.

«Vongozero» ist bei Netflix verfügbar.

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