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Denn einen ebensolchen strebt im Grunde jede/jeder von ihnen an, und diese Tatsache wiederum steht sinnbildlich für eines der übergeordneten Themen der letzten zehn Folgen – und nicht nur, weil die Freunde kurz vor ihrem Examen stehen: Zukunft. Die Gegenwart der Jugendlichen wurde bekanntlich seit einer gefühlten Ewigkeit von ihrer Vergangenheit bestimmt und darum ist es auch total plausibel, dass sie nun endlich nicht mehr zurück-, sondern nach vorne blicken wollen. Hat man all das durchgemacht, was diese Teenagerinnen und Teenager durchgemacht haben, schleppt man aber auch jede Menge Ballast mit sich herum. Wie Clay mit seinen Ängsten und inneren Dämonen umgeht, wird sehr ausführlich thematisiert, wohingegen das Befinden der anderen Hauptfiguren sichtlich weniger im Fokus steht und man daher bei einigen bis zum Schluss nur vermuten kann, wie es tatsächlich in ihrem Inneren aussieht. Doch streng genommen passt dieser verbleibende Hauch Ungewissheit eigentlich sehr gut zu einem Format, das bis zur letzten Einstellung seine Zuschauerschaft dazu auffordert, sich zu positionieren, was man allerdings umgekehrt auch als oftmals fehlende Bereitschaft, selbst Farbe bekennen zu wollen, auslegen kann.
Und deshalb ist es überdies nicht verwunderlich, dass es bei der Beurteilung des vierten Aktes dieser besonderen „Reise“ sehr häufig auf die Perspektive ankommt, die man einnimmt. Die starke „Clay-Zentrierung“ etwa hat ganz entscheidend mit dem Rahmen zu tun, den Brian Yorkey und Co. für das abschließende Abenteuer gewählt haben: Es sind die Therapiesitzungen des Sohnes von Lainie (Amy Hargreaves) und Matt Jensen (Josh Hamilton) bei Dr. Robert Ellman (Gary Sinise, den viele wohl auf ewig mit «CSY: NY » verbinden werden), in denen all die Erlebnisse dieses Jahres (direkt oder indirekt) zur Sprache kommen – und in Ansätzen auch welche, die noch länger zurückliegen. Diese Aufarbeitung ist der logische nächste Schritt, dessen Ausgangspunkt dieser leichte Optimismus in Bezug auf den „Neustart“ ist und der nur erfolgen kann, sobald sich der Betroffene endlich dazu durchringt, sich ernsthaft mit all dem offenkundig Verdrängten auseinanderzusetzen. Wer dies tut, muss in erster Linie ehrlich zu sich selbst sein und sich auch unbequemen Wahrheiten stellen; anders ausgedrückt: Derjenige schlägt bewusst den steinigen Weg ein. Und auf dieser Ebene gelingt es den inhaltlich Verantwortlichen auch, der Zuschauerschaft eine (alles in allem) in sich stimmige Antwort auf zahlreiche der noch offenen Fragen zu geben.
Auf der Ebene des für sie Erlebbaren wird man jedoch das Gefühl nicht los, dass diese das Ergebnis von überladenen Drehbüchern ist. Vieles wirkt etwas überambitioniert, etwas zu gewollt und vom tatsächlichen Schwerpunkt wegführend. Dies hängt unter anderem auch damit zusammen, dass man offenbar der Ansicht war, noch ein neues Bedrohungsszenario aufbauen zu müssen, das sogar nochmals gesplittet wird. Nur: Die, mit denen es die kurz vor ihrem Abschluss Stehenden bereits in der Vergangenheit zu tun hatten, sind äußerst schwer zu toppen, weswegen es wohl rückblickend klüger gewesen wäre, es gar nicht erst zu versuchen. Gerade auch, weil man das zentrale Problem, mit dem die „Fast-Erwachsenen“ ausschließlich in Season 4 konfrontiert sein sollten, ebenfalls aufwirft – und damit sind nicht der in Staffel 3 im Schnellverfahren eingeführte Winston Williams (Deaken Bluman) und auch nicht der bis dato noch gar nicht in Erscheinung getretene Diego Torres (Jan Luis Castellanos) gemeint, deren Rachemotivation (beide glauben, dass Montgomery „Monty" de la Cruz (Timothy Granaderos) zum Sündenbock gemacht wurde) – und das kommt sicher nicht von ungefähr – deswegen auch nicht sonderlich überzeugend anmutet. Die Augenblicke, in denen man sie von ihrer ebenfalls vorhandenen sympathischen Seite kennenlernt, dagegen umso mehr, weshalb es zweifelsohne eine Überlegung wert gewesen wäre, sie auch so einzuführen und nicht nur der Spannung wegen stattdessen lieber Konflikte erzwingen zu wollen.
Der wahre „Feind“, den es zu „besiegen“ gilt, sind nämlich, wie bereits angedeutet, diesmal die Hauptcharaktere selbst, und zwar in zweierlei Hinsicht: Zum einen müssen einige sich selbst verzeihen und/oder lernen, mit ihrer Schuld zu leben – nicht zu vergessen all die Ängste und Zweifel, die überwunden werden müssen. Zum anderen muss ihre Freundschaft ihrer mutmaßlich größten Belastungsprobe standhalten und den Beweis erbringen, dass sie eine tiefe und unerschütterliche ist, eine, die es auch aushält, wenn einzelne damit beginnen, sich gegenseitig zu misstrauen. Hätte man sich auf diese Aspekte im Wesentlichen beschränkt, hätte mit Sicherheit auch das „Final Chapter“ in seiner Gesamtheit eine ähnliche emotionale Wucht entfalten können wie die übrigen drei. Denn dann wäre es unter anderem auch darum gegangen, ob und wenn ja, unter welchen Voraussetzungen alles wieder „gut“ werden kann. Darum, was in diesem Kontext „gut“ bedeutet und darum, ob das Beichten der Wahrheit immer die beste aller Optionen ist – zumal sie von manchen nach wie vor als „relativ“ betrachtet wird. Primär geht es allerdings darum, für sich zu klären, wer man sein möchte.
Letztlich könnte man «Tote Mädchen lügen nicht» insgesamt immer wieder vor dem Hintergrund der geglückten und missglückten Selbstfindungsversuche beleuchten. Leitmotivisch zieht sich dieses Thema durch die komplette Geschichte und stößt einen dabei immer wieder auf andere, unmittelbar damit zusammenhängende: Liebe wird beispielsweise – gemessen an anderen jungen Dramen – als etwas sehr Komplexes und Facettenreiches dargestellt. Das Sich-Eingestehen, dass man nicht alles alleine schaffen kann, das Einstehen für sich und für andere sowie die mit der Suche nach Sinn, Glück und Erfüllung einhergehenden Herausforderungen des Lebens müssen ebenfalls in diesem Zusammenhang Erwähnung finden. Und da es in den finalen Episoden exakt dazu kommt – eben nur ergänzt durch einige Umwege –, wäre es sicherlich auch unangebracht, zu konstatieren, dass das Ende der Serie nicht gerecht geworden ist. Man ist schlicht auf den letzten Metern der Versuchung erlegen, (fast) alle Fäden irgendwie zusammenführen zu wollen und gleichzeitig dem Irrglauben, noch (ohne Not) diverse Fässer aufmachen zu müssen, die man (nachvollziehbarerweise) nicht mehr alle wieder verschließen konnte. Dies ist jedoch bekanntermaßen auch schon anderen populären Produktionen passiert.
Die dem Abschluss dieser Romanadaption zugrunde liegende Idee trägt aber, und das so sehr, dass am Ende die Netflix-Abonnentinnen und -Abonennten im Grunde nur noch eine Aufgabe haben: für sich zu entscheiden, ob sie mit den von den Protagonistinnen und Protagonisten eingeschlagenen Pfaden einverstanden sind oder ob sie sich im einen oder anderen Fall – auch von den für die Skripts Zuständigen – mehr Konsequenz gewünscht hätten. Solche Gedanken dürften spätestens während der letzten Sekunden von «13 Reasons Why» aufkommen, kunstvoll gestalteten Sekunden, die geprägt sind von beredtem Schweigen …
Alle Staffeln von «Tote Mädchen lügen nicht» sind auf Netflix abrufbar.
Es gibt 7 Kommentare zum Artikel
03.07.2020 11:05 Uhr 1
Das die erste Staffel seines Gleichen sucht und damit auch eine große Welle lostrat ist wohl jedem klar. Eine zweite Staffel mußte kommen, da einfach noch zu vieles offen und ungeklärt war. Doch schon bei dieser Zweiten merkte man, das es viel zu zäh erzählt wurde und stellenweise auch sehr langweilig daher kam. Die Dritte war dann doch wieder sehr gut, wobei man vieles darin in der Zweiten hätte einbauen können. Und daher wurde auch diesmal alles wieder zu einer Vierten gezogen. Ähnlich wie die Zweite ist die Vierten nun wiedermal sehr Zäh und Langweilig. Man schleppt sich so durch. OK, die letzten beiden Episoden sind großartig und gehen sehr ans Herz. Aber das wars auch schon. Komisch nur, das sich am ende sich vieles nur noch um Homosexuallität drehen, was einen schon etwas zu viel vorkommt. Daran merkt man plötzlich die Ideenlosigkeit. Die Vierten war, um einige Handlungen zu ende zu bringen, zwar nötig, aber dies alles hätte man doch in der Dritten auch schon erzählen können.
Daher, dieErste war großartig, die Zweite nötig, aber alles andere hätte man darin schon zu ende bringen können. Die Dritte und Vierte daher doch eher Überflüssog.
03.07.2020 20:08 Uhr 2
04.07.2020 12:53 Uhr 3
Und was mich am meisten gestört hat. In Staffel 4 waren gefühlt der halbe Cast schlagartig homosexuell. Alle waren Sie schwul. Habe das wie Kingston aufgefasst. Es gab schlagartig einfach deutlich mehr Homosexuelle. Versteht mich nicht falsch. Ich habe null was gegen Schwule, aber es war mir dann too much.
Viele Dinge in der Story wurde angegangen und dann wie ein Lufthauch kein Thema mehr.
@tommy.sträubchen : Naja wer die Serie jezt schaut, sieht eh nicht mehr alles. Ich sage nur der Showdown und das Highlight. Hanns Tod wurde komplett entfernt. Müssten ganze 3-4 Minuten sein. Auch in Staffel 2 und 3 wurden im Nachhinein Szenen leicht gekürzt. Gut so wie Hanns Tod abrubt halt war so war es dann auch beim Toten der 4.Staffel. Man inszeniert ne Story und wenns passiert, Themenwechsel.
04.07.2020 14:36 Uhr 4
04.07.2020 14:51 Uhr 5
Mit Staffel 4 waren statt 2 Personen gleich 10 Personen dem anderen geschlecht hingezogen. Es ist nunmal immer noch eine Teenieserie und keine Schwulenserie. Der Fokus Homosexualität wurde schlagarrtig zu stark ins Licht gerückt, obwohl es doch eigentlich um ganz andere Themen gehen sollte. Wenn vom Haupt-Cast, aus 2 ganze 5 Personen innerhalb von 8 Folgen werden dann ist das für mich einfach too much. Vorallem wenn es in einer 4. Staffel passiert und in den vorigen Staffeln mit 39 Folgen eigentlich nicht wirklich Thema war.
09.07.2020 15:09 Uhr 6
09.07.2020 15:20 Uhr 7