Popcorn & Rollenwechsel

Mikrowellen-Popcorn und tote Streaminglinks: Der Filmkritk-Zukunftsblick (Teil II)

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Das Jahrzehnt neigt sich seinem Ende entgegen. Zeit für unseren Kolumnisten, in einem mehrteiligen Berufsstandzwischenfazit zu verraten, wie es um die Filmkritik bestellt ist.

Der Dezember ist da. Und nicht nur irgendein Dezember, sondern der Dezember 2019. Der letzte Dezember der 2010er-Jahre. Nehmen wir diese zum Anlass, nachzudenken: Wo steht die Filmkritik heute, und wo könnte sie noch hingehen?

Teil II: Das Kleinkürzen der Pressevorführungen
Oder: Norden, Süden, Osten, Westen, ein Viertel finanziere ich nur mit Porto-Resten
Es ist schon kurios: Derzeit kommen regelrechte Rekordmengen an Filmen in die Kinos. Allein 2018 liefen 576 Filme in den deutschen Kinos an. Das sind zwar 11 weniger als im Jahr davor, trotzdem lässt sich wahrlich nicht über mangelnde Auswahl klagen – so viele Neustarts, aber so wenige von ihnen werden der Presse gezeigt. Und was sich gegenüber dem Anfang des Jahrzehnts geändert hat: Die Verleiher stutzen die Anzahl der Spielstätten. Zu Beginn der 2010er zählten Düsseldorf, Köln, Berlin, Hamburg, München, Leipzig und Frankfurt am Main sowie Stuttgart zu den zentralen „PV-Städten", also zu den Städten, in denen Pressevorführungen abgehalten wurden. Schon damals waren Berlin, Hamburg und München stärker frequentiert – sie haben mehr Filme zu sehen bekommen und einige Filme sogar mehrmals. Mit der Begründung, dass dort halt die großen Verlage sitzen, und man die erreichen muss/will.

Doch nun, im Jahr 2019, klafft eine viel größere Kluft zwischen den großen PV-Städten und den restlichen. Stuttgart ist kurz und klein gekürzt worden und bekommt nur noch eine mickrige Auswahl an Filmen vorgeführt, selbiges gilt für Leipzig. Frankfurt steht ebenfalls ziemlich doof da. Und während Köln und Düsseldorf als nahezu gleichberechtigte PV-Städte ins Jahrzehnt gingen, haben sich mehr und mehr Verleiher aus Düsseldorf zurückgezogen. Und selbst Köln erhält längst nicht alle Filme, die in Berlin, Hamburg und München der Presse gezeigt werden. Was bedeutet: Wer im Westen lebt und sich in der Filmkritik betätigt, hat viel seltener die Chance auf Aufträge als jemand in Berlin, Hamburg und München. (Wobei man in NRW in diesem Job viel besser dran ist als etwa jemand in Sachsen, das lässt sich nicht leugnen.)

Fragt man die Verantwortlichen, so wird gerne das Thema Geld als Begründung herangezogen: Pressevorführungen kosten nun einmal Geld, und das gibt man dann lieber in Hamburg, München und Berlin aus, wo man sich eine größere Wirkung erhofft – mehr Leute, mehr Artikel, die am Ende bei rausspringen. So weit, so nachvollziehbar. Ein Til Schweiger erklärte ja auch einst im Fernsehen, erst dann seine Anti-PV-Haltung beschlossen zu haben, als er erfahren hat, wie viel diese Vorführungen so kosten.

Die Folgen, die das hat, sind aber kurios: Aufgrund des Kostenarguments wird zwar gekürzt und gekürzt, gleichermaßen passiert es aber, dass aufgrund der ständigen Kürzungssorge Agenturen richtig froh sind, wenn neue Leute regelmäßig zu PVs kommen. Oh, drei neue Kritiker schlagen häufig in Düsseldorf auf? Super, das verbessert die Teilnahmestatistik und gibt den Agenturen ein Argument mehr, dass Verleih XY den Standort nicht aufgeben soll!

Und während an Kinovorführungen nur für die Presse behutsam, aber stetig gespart wird, nimmt die Masse an Online-Sichtungsmöglichkeiten zu. Diesbezüglich gibt es aber derzeit noch ein gigantisches Kuddelmuddel: Manche Studios haben ihre eigenen Server. Viele nutzen irgendeinen Drittanbieter, für die man einen speziellen Link braucht, gegebenenfalls dann noch ein Passwort. Und dann sieht man den Film mit zig Wasserzeichen im Bild. Oh, und manchmal funktioniert der Link nur einmal, was bedeutet, dass man sich einen neuen Link erfragen muss, wenn der Stream aus unerklärlichen Gründen zusammenbricht. Und dann nutzen andere die Videoplattform Vimeo, wo sie die Filme schlicht mit einem Passwort schützen.

Der Vorteil von Presse-Streaminglinks: Für die Kritikerschaft ist das bequem, man kann sich seine Zeiten flexibel einteilen, und die geografischen Grenzen lösen sich auf. Man kann auch in der tiefsten Provinz leben und Filme besprechen, wenn Streaming angeboten wird. Der Nachteil: Bei Pressevorführungen können die betreuenden Agenturen ein Auge darauf werfen, wer wirklich im Saal sitzt und den Film guckt, und wer nach zehn Minuten schon abhaut. Bei Pressevorführungen ist es schwerer, sich reinzumogeln, wenn man dort nichts zu suchen hat – Streaminglinks können dagegen veruntreut werden. Und je nach Streaming-Modell müssen die Screener auch personalisiert und kontrolliert werden und gegebenenfalls auch erneuert werden, was auch so seine Stressmomente mit sich bringt. Außerdem ist bei einer PV die Qualität der Seherfahrung ganz in der Hand der Betreuenden: Wenn Bild und Ton mal hapern, wird im Regelfall sofort eingeschritten. Bei der „Schau es doch bei dir Zuhause"-Variante dagegen …

Es ist also ein Gewinnen und ein Verlieren, bei diesem Wechsel von PV zu Kritiker-Streamings. Traueranzeigen für das PV-Modell muss man aber noch nicht schalten: Kein Studio wird sich in absehbarer Zeit trauen, seine größten kommerziellen Hoffnungsträger Kritikerinnen und Kritikern frei Haus zu liefern. Unklarer ist nur, was zuerst passiert: Werden Agenturen die Einlasshürde für PVs senken, „damit die sich auch lohnen!", oder wird man die Hürden noch höher legen, weil die Pfennigfuchser in den Studios die Spesen drosseln wollen? Nun ja: Im Idealfall verschwinden halt nur die faulen Kollegen, die den Job eh mies finden und nur für den Gratiskaffee in Pressevorstellungen gehen. Und wer würde denen schon hinterhertrauern?

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