Die Kino-Kritiker

«303»: Eine bezaubernde Europa-Reise voller amüsanter, geistreicher Gespräche

von

Regisseur Hans Weingartner beschenkt das deutsche Kino mit einem wunderschönen Road Movie, das Erinnerungen an Richard Linklaters «Before»-Trilogie weckt.

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Selbstverständlich widersprüchlich


Diese bezirzende Leichtigkeit von «303» generiert sich außerdem aus der einnehmenden Natürlichkeit, mit der Weingartner und Eggert die Figuen skizzieren: Sie stecken voller kleiner Widersprüchlichkeiten, die im großen Ganzen paradoxerweise ein rundes, stimmiges Gesamtbild ergeben – ganz so wie bei echten Persönlichkeiten. Im Laufe des Europatrips werden Jules und Jans Charakteristiken, Weltanschauungen und zwischenmenschliche Ticks Schicht um Schicht aufgedeckt. Politstudent Jan, dem aufgrund seiner kompromisslos liberalen Bewerbung ein Stipendium bei der konservativen Adenauerstiftung verwehrt bleibt, wird laut und unbeugsam, wenn er Jule von der Abschaffung des Kapitalismus träumt. Zunächst drängt sich die Frage auf: Wo ist bitte der Idealist hin, als den wir Jan kennengelernt haben? Doch wie sich schleichend zeigt, ist dies keine inkonsequente Drehbuchentwicklung: Jan mag innerhalb des existierenden Systems Idealist sein, doch er als strebsamer Politstudent weiß, wo die Grenzen des Machbaren sind – und bei aller Liberalität ist ihm bewusst, dass der Kapitalismus zu mächtig ist, als dass wir ihn abschaffen könnten.

Dass er im Zwiegespräch mit Jule bloß entgegnet, wie abstrus er ihren Wunsch findet, den Kapitalismus abzuschaffen, lässt ebenfalls tief in Jans Persönlichkeit blicken. Statt diplomatisch und seinem Weltbild entsprechend zu sagen, dass er Jules Meinung verstehen kann, selbst wenn sie kaum in die Tat umgesetzt werden zu können, kehrt er seine liberale Seite unter den Teppich und sucht die intellektuelle Konfrontation. Und zwar, weil dies Teil seiner Flirttaktik ist: Er, der verständnisvolle, empathische Typ, überbetont seine kantigen, machohafteren Züge. Ein Stück weit augenzwinkernd, ein Stück weit, weil er hofft, so bei Jule Eindruck zu schinden.

Ähnlich verhält es sich mit Jule: Die Biologiestudentin, die mit ihrem an atypische Beziehungsstrukturen glaubenden Freund eine Fernbeziehung führt, entromantisiert im Laufe ihres Austausches mit Jan das Thema Zwischenmenschlichkeit – und weißt auf biochemische Reaktionen hin. Ein Themengebiet, mit dem sie bei Jan offene Türen einrennt, der begeistert sein eigenes Halbwissen teil. Und dennoch hat Jule eine ausgeprägte romantische Ader.

Allein schon ihr Reiseplan, im vererbten Mercedes-Wohnmobil quer durch Europa fahren, ist in seiner Nostalgie romantisch angehaucht. Und wenn die Westentaschenphilosophiediskurse zwischen ihr und Jan das Thema Liebeskonstrukte erreichen, schwärmt sie mit glänzenden Augen von geistigen Verbindungen, die die reine Chemie übersteigen, und stärkt der Monogamie den Rücken. Gleichwohl ist sie es, die im Verbalkampf der Ideologien Jans These des dauerwettstreitenden Menschen ablehnt und Empathie als Grundposition betrachtet, die in Stresssituationen harscher wird und Jan hilflos dastehen lässt, sobald sich die Funkwellen, auf denen die Beiden senden, zu weit voneinander entfernen.

Ein heimlicher Europa-Film


«303» ist darüber hinaus ein wundervoll-subtiler, selbstverständlicher Beitrag darüber, wie schön und beschützenswert die Idee der Europäischen Union ist. Jule und Jan fahren sorg- und problemlos durch einen großen Teil Europas. Grenzen werden mit einem Lächeln auf den Lippen und einem ironisch-kitschigen High-Five durchfahren. Ohne die EU je ein einziges Mal aktiv zu thematisieren und so diese Diskussion mahnend-belehrend zu führen, zeigt Weingartner in «303», welche Freiheiten der Gemeinschaftssinn Europas erlaubt. Dieses unkomplizierte, genüssliche Beisammensein der verschiedenen Nachbarstaaten ist es doch schlussendlich, worum es bei der Idee der Europäischen Gemeinschaft geht, bricht man sie erst einmal herunter.

Es wäre eine Schande, diese Idee wegen teils arg hochgekochter politischer Unstimmigkeiten aufzugeben. So altmodisch Jule und Jan in mancherlei Hinsicht sein mögen, die jungen Erwachsenen, die während ihres Urlaubs nur höchst selten ihr Smartphone auspacken und die dauerquatschend in einem alten Gefährt Europa bereisen. Sie sind auch eine kleine, utopische Zukunftsvision: Sie sind keine Berliner, keine Deutschen – sie sind Europäer. Sie lassen geografische und gedankliche Grenzen hinter sich und ziehen keine unüberwindbaren Gräben zwischen ihnen, wann immer sich philosophische oder politische Differenzen abzeichnen. Sie wissen, dass man seine Individualität bewahren und dennoch harmonisch beisammen sein kann. Und wie die Europäische Union nimmt die angeregt diskutierende Zwei-Personen-Reisegruppe ihren Anfang als Zweckgemeinschaft. Nur bleibt es nicht dabei. Und so wird der Trip aufgrund der Freude, die Jule und Jan zusammen haben, um einen Zwischenhalt nach dem anderen verlängert. Zusammen ist es halt doch schöner …

Fazit


Durch kleine Gesten und große Gesprächsthemen kommen sich zwei Fremde näher: So schön wie in «303» war schon lange keine Filmreise mehr.

«303» ist ab dem 19. Juli 2018 in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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