«Jessica Jones»: Wie die Marvel-Serienkönigin der Netflix-Epidemie anheim fällt

Nicht einmal die Superhelden-noir-Serie «Jessica Jones» ist vor dem Problem sicher, das zahlreiche Netflix-Serien heimsucht – findet jedenfalls unser Serientäter.

Wie schreibt man eine Marvel-Netflix-Serie? Man führe in den ersten zwei bis drei Episoden einer Staffel schleppend den Plot ein. Daraufhin folgt eine Reihe an Episoden, die wie geschmiert einem Schema folgen, das sie sanft variieren. Diese Folgen lassen sich wie in einem Rutsch konsumieren, ohne dass größere Langeweile aufkommt. Dann verzieht sich der Antagonist – oder er stirbt sogar. Die Serie sucht anschließend erneut ihre Formel, ehe sie auf ein Finale hinarbeitet, das den Gedanken hinterlässt: "Für eine Miniserie wäre das ein toller Schluss", was ein mal mehr, mal weniger offensichtlicher Cliffhanger kaputt macht.

Auf die erste Staffel «Jessica Jones» trifft diese zynische Beschreibung allerdings nicht zu. Denn im Gegensatz zu ihren männlichen Kollegen hat die genervte Privatdetektivin/Superheldin-wider-Willen eine unfassbar stimmige, stringente und thematisch stark untermauerte Debütstaffel hingelegt. Und auch die zweite Runde «Jessica Jones» fällt nicht ganz in das von «Daredevil» vorgekaute Schema. Was bedauerlicherweise jedoch nicht bedeutet, dass die Serie weiter meilenweit über ihren Kollegen schwebt.

Denn die zweite «Jessica Jones»-Staffel steckt sich mit einer übergreifenden Netflix-Krankheit an: Das ziellose Mäandern. So, als würden die Autorenstämme beim VOD-Dienst stur die ersten Entwürfe des Staffel-Spannungsbogen einreichen. "Wenn Netflix uns Freiheit gibt, wieso zwei, drei Mal drüber gehen?", sagen sich in meiner Vorstellung die Köpfe hinter diversen Originalserien des Streaminganbieters. Ganz vorne mit dabei: Das völlig überbewertete "In dunklen Gassen prügeln und in ernster Stimme bereits kürzlich ausformulierte Plotpunkte zusammenfassen"-Format «Daredevil».

«Jessica Jones» übernimmt in Runde zwei die zeitweilige Behäbigkeit von «Daredevil» und gibt gleichzeitig etwas vom Anspruch der Auftaktstaffel ab. Während diese einen tiefen Blick in die Gedanken und das Gefühlsleben von Opfern häuslicher Gewalt gewährt, setzt die zweite Runde des Formats auf einen Gemischtwarenladen an Feststellungen zum Thema Sexismus. Als Rundumabschlag funktioniert dies dank der punktuell aus Suspense scharfe Kritik oder spritzige Satire schaffende Inszenierung, und das facettenreiche Ensemble tut seinen Teil dazu. Dennoch kratzen die neuen «Jessica Jones»-Episoden nur an der Oberfläche, wohingegen die Auftaktstaffel tief bohrt.

Aber selbst Krysten Ritters markige Performance und eine emotionale Achterbahnfahrten durchmachende Rachael Taylor als beste Freundin der Titelfigur, die jedoch zunehmend an ihrer Loyalität zweifelt, können nicht darüber hinwegtäuschen, wie schnell sich einige Subplots überdehnen. Die Suche nach dem Ursprung von Jessicas Superkräften ist ein zähes, viel Erzählzeit in Anspruch nehmendes Hin-und-wieder-Her-Rätsel ohne jegliche Faszination. Und aus dem "Die Hauptfigur muss ein Quasi-Ebenbild ihrer selbst bezwingen"-Gimmick holt «Jessica Jones» erschreckend wenig raus. Da stellt «Black Panther» mit seinen zwei Seiten der Medaille, wie Schwarze Weltpolitik mit Ex-Kolonisierern treiben sollte, beispielsweise tiefergreifendere Überlegungen an.

Es ist ja noch lange nicht alles für die Katz: Die Charakterisierung von Jessica Jones und ihrer Freundin Trish sowie die stimmig-scharfen, wenn auch im Vergleich zur ersten Staffel an Intensität nachlassenden, Bemerkungen zum Thema Sexismus sowie der atmosphärische Look halten die Serie wenigstens auf einem Niveau, dass sie für Komplettisten und große Genrefans empfehlenswert macht. Aber die dritte Staffel wäre sehr gut beraten, sich stilistisch wieder stärker von Jessicas Kollegen zu distanzieren, eh schon dünne Plotfäden nicht so übertrieben in die Länge zu zerren und – wie Runde eins – mehr ein eigenes Ding durchzuziehen.
27.03.2018 13:15 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/99923