Das Peak-TV-Buzzword schlechthin ist auch nur eine Option: Der Mythos vom horizontalen Erzählen als Serien-Nonplusultra

"Serientäter" Sidney Schering kann es nicht mehr hören: Horizontales Erzählen hier, horizontales Erzählen da. Dabei ist nicht jede 45-Stunden-Story ein neues «Breaking Bad» und nicht jede Serie mit abgeschlossenen Episodenhandlungen hirnlose Wegwerfware.

Das Buzzword und sein übertrieben großer Beifall


Peak TV. Das goldene Zeitalter der Serie. Diese und weitere Schlagwörter sind scheinbar untrennbar mit dem Hoch an horizontal erzählten Serien verbunden. Implizit drücken zahllose Serienfans aus: Seit mehr und mehr prominente Fernsehserien die "Jede Woche eine neue, losgelöste Story"-Erzählweise von «CSI: Vegas», «Eine schrecklich nette Familie», «King of Queens» und Co. aufgeben, ist die Serienlandschaft besser geworden. Fortlaufende Erzählungen, das bedeutet größeren Anspruch und automatisch höhere Qualität. Wann immer Fernsehschaffende aus Deutschland von den Ambitionen sprechen, die hierzulande brodeln und umgesetzt werden sollten, werden «Lost», «House of Cards», «Breaking Bad» und «Game of Thrones» herangezogen: Serien, bei denen die offenen Enden der meisten Folgen einen hohen Suchtfaktor erzeugen. So wie bei Soaps, nur, dass die nie als Goldstandard des Serienmachens herangezogen werden.

Was bereits die offensichtlichste Wahrheit anschneidet, die wohl alle Serienfans wissen, aber gerne im euphorischen Fieber der "Binge-Watching-Ära" ausblenden. Es ist eine erschreckend simple Erkenntnis, und dennoch eine, die konkret festgehalten werden muss, in der Hoffnung, dass sie die anhaltende Verklärung beinahe unendlicher Serienplots mildert: Nur, weil eine Serie fortlaufende Geschichten erzählt, statt Folge für Folge neue, kompaktere Storys zu präsentieren, regnet es nicht plötzlich ungefilterte Genialität in den Autorenraum. Im Feuilleton verlachte, selbst von vielen Fans als bloßes Entspannungsfernsehen betrachtete, Soaps und Telenovelas haben fortwährende Handlungen, ebenso wie gefloppte «Lost»-Trittbrettfahrer («FlashForward», «The Event») oder verrissene Netflix-Dramen (wie «Marvel's Iron Fist»).

Und im Gegenzug beweisen zahllose beliebte Sitcoms («ALF», «Hör mal, wer da hämmert», «Seinfeld», usw.), Kult-Trickserien («Die Simpsons» in ihren besten Jahren, «Darkwing Duck», etc.) und Anthologieserien («Black Mirror», «Geschichten aus der Gruft» und mehr), dass abgeschlossene Episodenhandlungen keinen qualitativen Genickbruch bedeuten. Und die Möglichkeiten, die sich bieten, wenn man jede einzelne Folge individuell gestaltet, wachsen weit über diese Formate hinaus. Um aber diese so simple Erkenntnis zu untermauern, wollen wir etwas tiefer graben: Was sind die potentiellen Vorteile, die es mit sich bringt, auf horizontales Storytelling zu verzichten?

«Master of None», oder: Ohne konstantes Weitererzählen wird es möglich, besondere Folgen zu kreieren


«Master of None» ist nicht bloß eine generell hervorragende Serie, sondern auch ein hervorragendes Beispiel dafür, dass das Erzählmodell von «House of Cards», «Breaking Bad» und Co. nicht das Nonplusultra für gelungene Serien darstellen muss. «Master of None» verfolgt das narrative Modell zahlreicher Sitcoms: Wie in «The Big Bang Theory», «Two and a Half Men», «Sabrina - total verhext» und diversen anderen Serien stehen alle Folgen insofern für sich selbst, als dass sie von einer bestimmten Situation handeln, für deren Verständnis die Kenntnis früherer Episoden nicht dringend nötig ist. Trotzdem sind diese Serien nicht vollkommen frei von folgenübergreifenden Elementen.

Ganz beiläufig können am Rand der Episodenhandlung subtile Entwicklungen getroffen werden. Beispiel: Zwei Fremde freunden sich in Folge A an, tauschen in Folge C flirtende Blicke aus und in Folge F geht es um deren chaotisches Date. Verfolgt man die Serie aufmerksam von Anfang bis Ende, leidet man bei den Höhen und Tiefen dieser Beziehung vielleicht stärker mit. Doch die Folgen sind selbsterklärend genug, als dass man genauso gut einfach quer einsteigen oder nur sporadisch reinschauen kann. Es macht für "die Folge über Trennungen" keinen Unterschied, ob man die eineinhalb Serienminuten in einer anderen Episode gesehen hat, in der die Zwei zusammengekommen sind.

So sehr eine streng horizontale Erzählweise die Spannung intensivieren kann, so droht sie, die Individualität einzelner Folgen zu opfern. Dabei ist es eine schöne Kunst, alleinstehende, prägnante Geschichten zu einem gezielt ausgewählten Thema zu erzählen. «Master of None» hat so unvergessliche Folgen wie "die, über Inder in Film und Fernsehen", "die, über das Essen von Schweinefleisch", "die über Tinder" oder "die darüber, wie es schwarzen Lesben ergeht, wenn sie mit ihrer Familie über ihre sexuelle Orientierung sprechen". «Master of None» ist fast schon eine Anthologieserie wie «Black Mirror», als dass jede einzelne Episode ihr eigenes Werk mit individuellem Fokus ist. Sie besteht ausschließlich aus Folgen, die man gezielt raussuchen und einfach so angucken oder Anderen vorführen kann. Sie bietet Folgen, die in ihrer Gesamtheit in Erinnerung bleiben und die ihr Thema fokussiert präsentieren – eine horizontale Serie würde deren Plotfäden zerhackstückeln, mit anderen durchmischen und über mindestens 13 Fernsehstunden verteilen.

Viele herausstechende Folgen, statt ein langer Strom an zusammenhängenden Episoden


In einer Serie wie «Breaking Bad» fällt es viel schwerer, Folgen zu kreieren, die von einem konkreten Setting oder einer thematischen Klammer bestimmt werden, da stets alte Handlungsfäden aufgenommen und neue Fragen aufgeworfen werden wollen. Ja, «Breaking Bad» hat mit «Ozymandias» eine Folge, die legendärerweise grell strahlend heraussticht – doch ihre Dramatik erschließt sich nur bruchteilweise, wenn man nicht vorab auch die über 2.500 vorhergehenden Serienminuten gesehen hat. Die andere prominent hervorstechende Episode, «Die Fliege», vereint wiederum die Subtilität eines Vorschlaghammers mit dem Vorwärtsdrang eines zugefrorenen Sees. «Breaking Bad» besticht als televisionärer Schmöcker im Ziegelsteinformat – als Sammlung zahlreicher einzeln konsumierbarer Episoden ist dieser TV-Geniestreich auf einmal deutlich uninteressanter.

Das heißt nicht, dass besondere Folgen für horizontale Formate unmöglich sind. «Lost» etwa hat eine Handvoll solcher Episoden, da die Serie durch ein großes Ensemble durchrotiert und stets den Fokus neu legt – klar, manchmal wird der Haupthandlungsfaden prominent weitergesponnen und nebenher näher auf den Helden Jack eingegangen. Andere Male erlebt Hurley ein witziges Abenteuer auf der Insel, während Rückblenden ein dramatisches aus seiner Vergangenheit erzählen. Oder aber zwei Randfiguren streuen Salz in die Wunden quengelnder Fans. Und «Alias – Die Agentin» hat mehrere "Wir halten die fortlaufende Handlung für einen kleinen, alleinstehenden Thriller mit unserem Figurenensemble an"-Episoden.

Dennoch bleibt der Zauber origineller Folgen, den beispielsweise «Master of None» gekonnt ausspielt, vornehmlich den Serien vorbehalten, die im Peak-TV-Dauerjubel eine stark untergeordnete Rolle spielen. Weil sie ja keinen Hauptplot plus eine kleine Handvoll an Nebenhandlungen über mehrere Dutzend Stunden ausdehnen, sondern nur kleine Storyhäppchen liefern. Wie «Scrubs – Die Anfänger» (eine weitere Comedyserie mit beiläufiger Figurenentwicklung) mit solchen Spezialfolgen wie einer Sitcom-Parodie, einer «Der Zauberer von Oz»-Hommage, einer Musical-Persiflage, einer dramatischen Plottwist-Episode und einer Folge über den Schmetterlingseffekt. Wie «Pushing Daisies» mit einem Dauerfeuer an originellen, märchenhaft inszenierten, kuriosen Mordfällen, die für sich stehen. Wie «Sherlock» als Reihe an nur dezent verbundenen, 90-minütigen, sehr ambitionierten Krimis. Wie «Community» mit seinen stark thematisierten Feuerwerken an Lachsalven. Und so weiter, und so weiter.

Dafür laufen Serien ohne episodenübergreifende Storybögen auf andere Art Gefahr, austauschbar zu werden – wenn eine Folge zu sehr der anderen gleicht und die Figuren nach langen Jahren charakterlich stillstehen, weil ja nichts von Relevanz passiert. «The Big Bang Theory» ist, seit die meisten der Nerds in festen Beziehungen stecken, fahl geworden, «Die Simpsons» erleben nur noch eine Handvoll lustiger Abenteuer pro Staffel (früher war es umgekehrt) und in zig US-Krimis passiert Folge für Folge dasselbe. Letztlich sind beide Serienphilosophien also gleich gut. Das, worauf es ankommt, ist die Frage, wie passioniert und fähig diese Erzählweisen umgesetzt werden.
16.01.2018 07:24 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/98379