Popcorn und Rollenwechsel: Boykott ist auch keine Lösung

"Mensch XY ist ein Schuft, also bestrafe ich mich, und schränke mich in meinem Filmkonsum ein." Eine Logik, die unser Kolumnist nicht begreift ...

Sie häufen sich und häufen sich: Schwer anzuzweifelnde Anschuldigungen gegen Personen aus dem Showgeschäft. Um einige der Vorwürfe zusammenzufassen: Harvey Weinstein ist ein perverses Schwein größter Güte. Louis C.K. ist widerlich. Kevin Spacey suhlt auch wahrlich nicht mehr in Sympathiepunkten. Und damit haben wir nicht einmal die Spitze des Eisberges abgedeckt. Viele Menschen sind Monster, und je mehr von ihnen als solche enttarnt werden, desto stärker pocht in unserer Gesellschaft die Frage: Wie sollen wir mit den Leistungen dieser Fieslinge umgehen?

Häufig stolpere ich in den sozialen Netzwerken über Boykottversprechen. "Jetzt, wo ich weiß, dass Louis C.K. sich vor Frauen gegen ihren Willen einen runterholt, schaue ich nie wieder einen Film mit ihm." "Harvey Weinstein hat einige meiner Lieblingsfilme produziert – aber ab sofort hasse ich seine Filme und schau sie mir nie wieder an." "Tja, werde ich mir wohl nie wieder «Die üblichen Verdächtigen» angucken können." Und so weiter.

Ich kann natürlich keinem Menschen da draußen vorschreiben, was er zu fühlen hat. Eine Person, die derart von den Anschuldigungen Harvey Weinstein angeekelt ist, dass sie schon Ausschlag bekommt, sobald sie auch nur eine «Chicago»-, «Pulp Fiction» oder «Scream»-Blu-ray anfasst, sollte nun nicht dazu gezwungen werden, sich trotzdem eine Weinstein-Produktion anzuschauen. Aber allen anderen kann ich nur sagen: Lasst euch nicht einreden, dass ihr Boykott betreiben müsst!

Denn wo kommen wir hin, wenn wir uns von der Fehlbarkeit oder Abscheulichkeit einzelner Personen in unserem Kunst- und Unterhaltungskonsum einschränken lassen? Dann gewinnen die Scheusale ja doppelt und dreifach – wollen wir das wirklich? Welchen Nutzen hätte das?

Wenn ich mir nie wieder «Gangs of New York» anschaue, kommt Harvey Weinstein auch nicht schneller in den Knast. Wenn tatsächlich Louis C.K.s bislang nur auf Festivals gezeigte Filmsatire «I Love You, Daddy» im Giftschrank verschwindet und nicht regulär veröffentlicht wird, dann gehen (den bisherigen Kritiken nach zu beurteilen) tolle Schauspielperformances von Chloë Grace Moretz und Rose Byrne verschollen. Das macht es nicht rückgängig, dass der Regisseur des Films Frauen gegen ihren Willen sein Gemächt präsentiert hat, raubt aber zwei talentierten Künstlerinnen verdiente Zeit im Rampenlicht.

Filmvernarrte, die sich sagen, sie könnten nie wieder «Baby Driver» schauen, weil da ja mit Kevin Spacey eine "problematische Persönlichkeit" Film in den Fokus gerückt wird, dann schmeißen sie ein Meisterwerk des Filmschnitts und der Actionchoreografie unter den Bus. Das wiegt Spaceys Taten nicht auf, beschränkt diese Filmliebhabenden aber in der Ausübung ihrer Passion. Kein Gewinn, nur Verlust. Und selektiv ist es auch, weil es sich auf einen medial viel diskutierten Fall beschränkt.

Konsequenterweise müsste dann beispielsweise auch «Wonder Woman» aus der Filmrotation verschwinden, profitierte an diesem Film doch Brett Ratner mit, der Gründer der Produktionsfirma RatPac-Dune Entertainment. Ratner wird Vergewaltigung vorgeworfen. Von einem selbstauferlegten Boykott gegen seine Produktionen, zu denen neben «Wonder Woman» auch «Life of Pi – Schiffbruch mit Tiger» und «Mad Max: Fury Road» gehören, prahlt im Netz aber keine Seele. Erstens, weil Ratner keine beim Gelegenheitskinogeher bekannte Persönlichkeit ist und daher viel weniger Schlagzeilen spendiert bekommt als Spacey – was wiederum den virtuellen Beifall bei einem Boykott reduziert. Zweitens, weil es doch eh Unsinn wäre.

Was brächte es, die Leistungen einer Frau wie Patty Jenkins zu bestrafen, um irgendwie Ratners Karma zu beschädigen oder sowas? «Wonder Woman» ist der bis dato größte wirtschaftliche Erfolg, der einer Regisseurin im Realfilm beschert war. Soll dieser Meilenstein in Zukunft allen Ernstes im Schatten von Ratners Glied stehen? Na, schönen Dank aber auch …

Menschen sind Müll. Das ist leider häufiger wahr, als dass es nicht wahr ist. Wenn wir uns fortan vor allem verstecken, an dem auch nur irgendein Mistmensch irgendwie mitgewirkt hat, können wir direkt zu Einsiedlerinnen und Einsiedlern werden. Das hilft im Kampf gegen die Bösen aber auch nicht. Wieso also nicht das Warten auf den Weinstein-Prozess, der dann 2029 in eine hammergeile Staffel «American Crime Story» münden wird, ganz frech mit einem Marathon an Polanski-Filmen versüßen? Das verhilft dann vielleicht sogar zu dem dicken Fell an Zynik, das es braucht, um sich durch unsere Welt voller Schuften zu manövrieren, ohne dabei voller Frust einzugehen.
21.11.2017 19:15 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/97210