Von der Gegenwart eingeholt: «Der Stern von Indien»

Es liegt eine große Tragik in der Erkenntnis, dass «Der Stern von Indien» trotz des ihm zugrunde liegenden und Jahrzehnte alten Ereignisses immer noch eine hohe Brisanz besitzt. Denn der Appell daran, dass Ausgrenzung und Vertreibung nie zu Frieden führen kann, ist brandaktuell.

Filmfacts: «Der Stern von Indien»

  • Kinostart: 10. August 2017
  • Genre: Drama/Historienfilm
  • FSK: 6
  • Laufzeit: 107 Min.
  • Kamera: Ben Smithard
  • Musik: A.R. Rahman
  • Buch: Paul Mayeda Berges, Moira Buffini, Gurinder Chadha
  • Regie: Gurinder Chadha
  • Darsteller: Gillian Anderson, Michael Gambon, Hugh Bonneville, Manish Dayal, Simon Callow, Huma Qureshi, Om Puri
  • OT: Viceroy's House (UK/IND/SWE 2017)
«Der Stern von Indien» fühlt sich im besten Sinne anders an. Eigentlich erzählt die indisch-stämmige Regisseurin Gurinder Chadha («Kick it Like Beckham») in ihrem bildgewaltigen Drama bloß ein weiteres, geschichtsträchtiges Ereignis anhand von mehreren darin involvierten Schicksalen und ermöglicht dem Publikum ein möglichst breit gefächertes Urteil über das, was kurz nach dem Zweiten Weltkrieg in der britischen Kronkolonie Indien geschah. Vor siebzig Jahren wurden dort die indische Union und die kleinere islamische Republik Pakistan ausgerufen. Ein wichtiges, wenn auch aus deutscher Sicht weit entferntes (und schon gar nicht in unser aller Köpfen präsentes) Ereignis. Trotzdem ist man an den fiktional unterfütterten Filmgeschehnissen in «Der Stern von Indien» gefühlt näher dran, als an vielen anderen Historiendramen jüngerer Zeit, was sich erklärt, als im Abspann die Herkunft der Filmemacherin entschlüsselt wird. Gurinder Chadha erzählt nämlich die wahre Geschichte eines ihrer früheren Familienmitglieder nach, was der ganzen Geschichte rückwirkend einen viel größeren emotionalen Nachdruck verleiht, als hätte der üppig ausgestattete Film das von vornherein angekündigt.

So aber lässt sich nicht bloß die Detailtreue und genaue Beobachtungsgabe des von Gurinder Chadha mit verfassten Skripts erklären, sondern auch die ungemeine Warmherzigkeit. Manch einer mag ihrem Film nachsagen, er würde die Ereignisse zu Gunsten einer banalen Kinoromanze verwässern. Doch «Der Stern von Indien» ist nicht gefällig oder gleichgültig, sondern einfach nur optimistisch.

Friedlich in die Unabhängigkeit


1947 kommen Lord Mountbatten (Hugh Bonneville) und seine Frau Edwina (Gillian Anderson) nach Delhi. Als Vizekönig soll Mountbatten die britische Kronkolonie in die Unabhängigkeit entlassen. In seinem Palast arbeiten nicht weniger als 500 indische Bedienstete, darunter der junge Hindu Jeet (Manish Dayal), der hier unverhofft seine einstige Flamme wiedertrifft, die schöne Muslima Aalia (Huma Qureshi). Es ist eine verbotene Liebe, denn eine Verbindung zwischen Angehörigen der verfeindeten Religionen kommt nicht in Frage. Als Mountbatten die neuen Staaten Indien und Pakistan gründet, brechen schwere Unruhen aus. Jeet verliert seine Familie und die geliebte Aalia…

Gurinder Chadha nimmt im Laufe ihrer kurzweilig erzählten 100 Minuten unterschiedliche Perspektiven ein: Da wäre zunächst einmal das Politiker-Ehepaar Lord und Edwina Mountbatten, deren Aufenthalt in Indien erst einmal eher zweckmäßiger Natur ist. Nach und nach nehmen aber auch die Einheimischen einen immer größeren Stellenwert ein; ob im Service des Mountbattenschen Hofstaats, wo die indische und die britische Kultur direkt aufeinander prallen, oder auf den Straßen direkt, mit deren Hilfe Chadha einen scharfen Kontrast dazu findet, wie sich Außenstehende die Zustände in Indien vorstellen – dem Film gelingt es, die unterschiedlichen Meinungen und Ansichten über die bevorstehende Unabhängigkeit mannigfaltig dazulegen. Sowohl im politischen, als auch im persönlichen Inneren diverser Figuren gewinnt der Zuschauer einen ausgiebigen Einblick darin, welche Vor-, aber auch welche Nachteile die Teilung des Subkontinents mit sich bringen würde. Denn dieser Prozess hat auf das Land nicht bloß geographische Auswirkungen, sondern ist auch religiös belastet. Im Zuge dessen wurden dato rund zehn Millionen Hindus und Sikhs aus Pakistan und etwa sieben Millionen Muslime aus Indien vertrieben, was eine der größten Fluchtbewegungen der Zeitgeschichte auslöste.

Nur vereinzelt lässt Gurinder Chadha Bilder für sich sprechen, die die körperliche Qual der Geschehnisse betonen. Trotz kriegsähnlicher Zustände von Vertreibung, Ausgrenzung und Gewalt, sind Momente, in denen ein ausgemergelter Mann am Boden liegt und darüber verzweifelt, dass im Dorf Frauen vergewaltigt werden, rar gesät. Für die vorherrschende Beklemmung, insbesondere die der allgegenwertigen Bedrohung ausgesetzten Gläubigen, entwickelt der Zuschauer entsprechend kaum ein Gespür. Auszugleichen vermag Gurinder Chadha diesen Umstand indes dadurch, indem sie das tragische Schicksal eines einzelnen Pärchens in den Fokus rückt. Was zunächst wie eine klassische „zwei Liebende können aufgrund ihrer unterschiedlichen Herkunft einander nicht haben“-Lovestory klingt, steht im Strudel der eskalierenden Ereignisse irgendwann stellvertretend für so viele andere, durch den Kriegszustand auseinander gerissenen Liebespaare, denen das Glück nicht vergönnt war.

Und da es sich gerade bei diesem Pärchen um jenes handelt, zu dem die Regisseurin auch im wahren Leben einen persönlichen Bezug besitzt, wirkt an der Schilderung nichts überdramatisiert oder theatralisch, sondern leider alles erschreckend echt. Mit Manish Dayal («Madame Mallory und der Duft von Curry») und Huma Qureshi («Badlapur») ist Gurinder Chadha darüber hinaus ein echter Glücksgriff gelungen. Den moralisch-gefühligen Zwiespalt der beiden Liebhaber in spe glaubt man als Zuschauer zu jeder Sekunde.

Neben dem Handlungsstrang um die beiden Liebenden ist auch der eigentliche Hauptplot um das Ehepaar Mountbatten von enormer Wichtigkeit. Nicht nur die Person des Lord Mountbatten ist von geschichtlicher Relevanz (der sogenannte „Mountbatten-Plan“ beschloss dato die Teilung in Britisch-Indien und die beiden Nachfolgestaaten Indische Union und Pakistan), er ordnet die Ereignisse auch für den Zuschauer fachlich ein und repräsentiert zugleich den sukzessiven Aufbruch konservativen Denkens. Es hat gewiss etwas Plakatives, wenn Edwina Mountbatten eines abends beschließt, dass ab sofort mehr Menschen verschiedener Glaubensrichtungen an ihrem Tisch setzen werden, doch es ist Edwinas ganz eigener Beitrag dazu, einen Grundstein für ein friedliches Miteinander zu legen. Dazu passt, dass Lord Mountbattens diverse Gespräche mit hohen indischen Politikern nie völlig in die Materie eindringen. Als Zuschauer lässt sich ihnen leicht folgen; gleichwohl wird man das Gefühl nicht los, hier würde zu einem einfachen Verständnis vornehmlich an der Oberfläche gekratzt.

Etwas ganz Anderes lässt sich über die Darsteller sagen: Hugh Bonneville («Paddington») und «Akte X»-Star Gillian Anderson gehen in ihren Rollen als einflussreiches Politehepaar vollends auf und schaffen es hervorragend, ihre privaten Emotionen mit ihrem Bestreben nach fachlicher Korrektheit zu verbinden. Lediglich die Performance von Neeraj Kabi («Talvar») wirkt arg befremdlich: Seine Imitation von Mahatma Ghandi erscheint einem fast schon wie das Bemühen um eine möglichst spleenige Karikatur.

Fazit


In ihrem opulent bebilderten Geschichts- und Liebesdrama «Der Stern von Indien» gelingt es der auch persönlich in die Ereignisse involvierten Regisseurin Gurinder Chadha, verschiedene Sichtweisen auf ein wichtiges historisches Ereignis zu gewähren, das noch 70 Jahre nach seinem Stattfinden nichts an Brisanz verloren hat.

«Der Stern von Indien» ist ab dem 10. August in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
09.08.2017 11:00 Uhr  •  Antje Wessels Kurz-URL: qmde.de/94981