Serien-Podcasts: Der Horror spielt im Kopf

Es ist das Medium, das amerikanische Medienkritiker zuletzt gefeiert haben: In Podcasts finden derzeit die großen seriellen Erzählungen statt, die großen Geschichten im Stile von HBO und Netflix. Über das Phänomen – und über einige Must-Hear-Empfehlungen.

„Du musst dir in jedem Moment überlegen, ob du einfach nur deine Zeit vergeudest – oder nicht.“ Der Sprecher des amerikanischen Podcasts «S-Town» beginnt seine Erzählung damit, über antike Uhren zu philosophieren. Darüber, wie schwierig es ist, sie zu reparieren, und dass es dafür ja keine Anleitungen mehr gebe. Die einzigen Spuren seien sogenannte „witness marks“, Einkerbungen in der Uhr zum Beispiel, wo vermutlich eine Schraube steckte. Nur wenige Menschen auf der Welt würden noch die Kunst beherrschen, solche antiken Uhren zu reparieren. Und in jedem Moment müssten sie sich eben überlegen, „ob du einfach nur deine Zeit vergeudest – oder nicht.“ Und der nächste Satz des Erzählers: „Das alles weiß ich auch nur, weil mich vor Jahren ein solcher Uhrenrestaurator kontaktiert hat – und mich darum bat, mit ihm einen Mordfall zu lösen.“

So beginnt die Geschichte von «S-Town», und schnell erkennen wir die Erzählung um die antike Uhr als Metapher für Ermittlerarbeit, für das Suchen nach Spuren, nach den „witness marks“. Die Macher des Podcasts beginnen eine Geschichte in einer Kleinstadt, Tatort Alabama: eine Geschichte um den Sohn einer reichen Familie, der damit prahlt, einen Mord erfolgreich vertuscht zu haben, um einen plötzlichen zweiten Mord, um eine Schatzsuche…

Es ist deswegen spannend, auf diese neue Podcast-Veröffentlichung zu blicken, weil sie Stellvertreter ist für eine bemerkenswerte Entwicklung des Mediums: Vor einigen Jahren wurde der Podcast – als Medium – totgesagt, weil er nicht über den Nischenstatus hinauskam. Zu speziell, zu kleine Zielgruppe, technisch nur kompliziert zugänglich und userunfreundlich, zu schlechte Tonqualität, zu ausufernde Diskussionen, zu viel Nerd-Gerede. Die Liste an Kritikpunkten ist lang, Fakt ist, dass der Podcast sich im Massenmarkt damals nicht durchsetzen konnte. Medienexperten vergleichen die Entwicklung des Podcasts gern mit der von YouTube: Beide Angebote starteten ungefähr zeitgleich in großem Stil – ungefähr Mitte der 2000er –, doch nur aus YouTube wurde ein Millardenmarkt, mit dem große Unternehmen und viele Protagonisten Geld verdienen und ihren Lebensunterhalt damit bestreiten können. Ein tragfähiges Geschäftsmodell, das auch wirtschaftlich funktioniert. Der Podcast dagegen verblieb in der Nische und hatte eher Hobby-Charakter. Geld verdienen konnte man als Podcaster kaum, vor allem nicht außerhalb der USA.

Die Entwicklung des Mediums nahm im Herbst 2014 eine Wende, als der Podcast «Serial» erschien. Schon vor seiner Veröffentlichung belegte er die Spitze der iTunes-Charts, und er entwickelte sich über Monate hinweg zum beliebtesten Format weltweit. Keine andere Produktion überschritt die Schwelle von fünf Millionen Downloads, rund einem Monat nach dem Start. Nochmal vier Monate später lag die Zahl bei über 68 Millionen. «Serial» hat innerhalb kürzester Zeit das geschafft, was kein anderer Podcast vorher vermochte: in den Mainstream vorzudringen und Gesprächsthema zu werden. Plötzlich schrieb die halbe Medienwelt über das Phänomen aus den USA.

Das Podcast-Genre boomt nach seinen Nischenjahren


«Serial» machte das Gegenteil von dem, wofür Podcasts bekannt waren: Es gab keine Diskussions- oder Gesprächsrunden über irgendwelche Themen. Nein, «Serial» erzählte eine Geschichte im Hörbuchcharakter: über den Mord an einer 18-jährigen Highschool-Schülerin im Jahr 1999, der darauffolgenden Suche nach dem Täter und dem anschließenden Gerichtsprozess. Was «Serial» erstens so besonders macht, ist der wahre Hintergrund der Geschichte: Es handelt sich um eine True-Crime-Story, also um eine reale Begebenheit, die sich wirklich so 1999 zugetragen hat. Zweitens wird die Geschichte nicht nur anhand alter Dokumente nacherzählt: Nein, es wird mit Zeugen gesprochen, mit Protagonisten im damaligen Mordfall – und die Erzählerin macht im Podcast immer wieder ihre eigene Gefühlslage bei ihren neuen Recherchen deutlich. Die neuen Informationen, die sie herausfand, führten sogar dazu, dass der Gerichtsprozess um den vermeintlichen Mörder der Highschool-Schülerin neu aufgerollt wird.

Mit diesem Format hat «Serial» einen regelrechten Boom an narrativen Podcasts ausgelöst, der 2017 – so scheint es – seinen Höhepunkt finden wird. Dazu gehört auch das anfangs angesprochene «S-Town», eine Art Spin-Off von «Serial» und seinen Machern. «S-Town» hat ebenfalls einen realen Hintergrund, wie seine Produzenten twitterten: „Die Story von «S-Town» beginnt mit einer E-Mail, die man uns zukommen ließ: ‚Ich würde euch Produzenten gern von zwei Ereignissen berichten, die hier kürzlich passierten. Ich hoffe, dass Sie die Möglichkeit haben, hier zu ermitteln.‘“ Die kryptischen Worte stammen von jenem antiken Uhrenrestaurator, von dem in der Einleitung der ersten Folge die Rede ist. «S-Town» unterscheidet sich von «Serial» in der narrativen Freiheit: Diesmal gebe es „kein Nachrichten-Imperativ, um die Story zu erzählen“. Man komme so deutlich mehr an das Lesegefühl eines Romans – oder das Schauen einer Qualitätsserie – heran als die journalistische «Serial»-Erzählung. Auch «S-Town» ist derzeit ein großer Podcast-Erfolg und in aller Munde.

Viele Formate gehen mittlerweile noch einen Schritt weiter und sind komplett fiktional; sie basieren nicht mehr auf einer wahren Geschichte und stehen damit in der wirklichen Tradition der großen seriellen Erzählstoffe von HBO, AMC oder Showtime. Eines der besten und meistdiskutierten: «Alice Isn’t Dead» erzählt von der Truckfahrerin Alice, die in den Weiten der USA auf der Suche nach ihrer Ehefrau ist – und von einem menschenfressenden Serienkiller verfolgt wird. Ein weiteres Vorzeigeprojekt ist «Homecoming», ein Psycho-Thriller über ein geheimes Regierungs-Experiment mit Kriegsheimkehrern. An Bord sind unter anderem solche Hollywoodstars wie Oscar Isaac und David Schwimmer. In «Rabbits» glaubt die Erzählerin, dass das Verschwinden ihrer Freundin auf ein mysteriöses Spiel zurückzuführen ist, das seine Spieler verrückt macht oder tötet. Der Podcast hinterfragt die Grenzen von Realität und Fiktion – und ist damit auch eine Art Meta-Referenz für die gesamte Entwicklung des Genres.

Hinter vielen solcher Podcasts stehen oft Medienunternehmen, hinter «Serial» beispielsweise der nichtkommerzielle Radiosender „Chicago Public Radio“, der sich über Hörerspenden finanziert. «Homecoming» wird hergestellt vom kommerziellen Podcast-Netzwerk „Gimlet Media“, ein Startup, das seine Einnahmequellen – Werbung, Spenden, Abos – derzeit auslotet. Auch in Deutschland entstand 2016 mit „Viertausendhertz“ ein Label, das versucht, mit anspruchsvollen Produktionen wirtschaftlich erfolgreich zu sein. Eine serielle Erzählung im Stile der großen US-Formate gibt es dort allerdings noch nicht. Der NDR plant für 2018 zwei Podcasts im Stile der US-Formate.

Podcasts sind nicht die besseren Serien, nein. Aber ihre Kraft als reduziertes Medium – wir sehen nicht mehr auf einem Bildschirm, was wir erzählt bekommen – ist faszinierend. Jeder Freund großer erzählerischer Epen – von «Mad Men» also, von «Breaking Bad» oder «The Sopranos» – sollte diesem Genre eine Chance geben: Wenn wir die Bilder nicht mehr vorgegeben bekommen, sondern selbst im Kopf entwerfen (müssen), dann kann unser emotionales Erlebnis ins Unermessliche steigen. Wir befinden uns quasi mitten in der Geschichte, die wir selbst zeichnen.

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Zum Start von «Serial» erklärte Produzent Ira Glass: „Wir möchten euch dieselbe Erfahrung bieten, die ihr von einer großartigen HBO- oder Netflix-Serie bekommt: wo ihr gefesselt werdet von den Charakteren und von den Dingen, die Woche für Woche aufgedeckt werden. Allerdings basiert unsere Geschichte auf einer realen Begebenheit, und sie hat keine Bilder. Wie «House of Cards» also, nur dass ihr sie genießen könnt, während ihr Auto fahrt.“ Eine gute Empfehlung ist das eigentlich nicht. Man sollte sich mit allen Sinnen auf die großen Podcast-Erzählungen wie «Serial» einlassen – und das Auto in der Garage stehen lassen.
05.04.2017 12:10 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/92283