Sandra Müller: „Radio muss wieder etwas erzählen!“

Welche Rolle spielt das Medium Radio in Zeiten von Streaming und Spotify? Hat moderiertes Programm eine Zukunft? Und warum ruft eigentlich niemand Lügenpresse nach Radiobeiträgen? Fragen zum Weltradiotag an Sandra Müller, Radiokritikerin und Moderatorin bei SWR4.

Der Weltradiotag

Seit 2012 wird jedes Jahr am 13. Februar der Weltradiotag begangen. Die UNESCO hatte den Tag in Erinnerung an die Gründung des United Nations Radio ins Leben gerufen. Das Radioprogramm der Vereinten Nationen wird weltweit in mehreren Sprachen ausgestrahlt und berichtet über die aktuellen Vorgänge bei der UN.
Frau Müller, wie viele Preise haben Sie mit Ihrer Kollegin Katharina Thoms für Ihre SWR-Dokumentation «Jeder Sechste ein Flüchtling» eigentlich inzwischen abgeräumt?
Wir waren nominiert für den Deutschen Radiopreis, den Grimme-Online-Award und sind gerade auf Platz 3 der Journalisten des Jahres 2016 in der Kategorie Regionalreporter gewählt worden. Abgeräumt haben wir insgesamt drei Preise.

Herzlichen Glückwunsch! Wie sehr weht Ihnen der Hass ins Gesicht, seitdem Sie offensiv das Thema Flüchtlinge angegangen haben?
Ehrlich gesagt nicht allzusehr - verglichen mit anderen Medienvertretern. Das liegt sicher daran, dass wir eine ausführliche Webdokumentation gemacht und das Thema im Radio aufgegriffen haben. Den viel massiveren Hass erfahren die Kollegen, die tagesaktuell für das Fernsehen berichten oder bei der Lokalpresse arbeiten. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass unsere Darstellungsform nicht so viel Anlass für Beschimpfungen gegeben hat. Wir wollten zeigen, was es mit einer Kleinstadt macht, wenn so viele fremde Menschen kommen und da ist bereits die Anerkennung enthalten, dass das eine schwierige Aufgabe ist. Wir wollten nicht explizit Flüchtlingsgeschichten erzählen, sondern die Menschen sprechen lassen, die durch die Flüchtlinge eine große Veränderung ihrer Lebenswirklichkeit erlebt haben. Die Menschen sollten uns sagen, womit sie Schwierigkeiten haben. Dennoch haben uns auch wüste Beschimpfungen und Unterstellungen erreicht.

Glauben Sie, dass der Journalismus in den letzten Jahren richtig auf die Menschen reagiert hat, die auf der Straße Lügenpresse rufen?
Ich glaube, viele suchen den richtigen Umgang noch und deswegen probiert man viel aus und reagiert manchmal richtig und manchmal falsch. Persönlich habe ich es mir angewöhnt, auch jemanden, der sehr bösartig schreibt, eine Rückmeldung zu geben. Ich atme erst einmal durch und dann schreibe ich sachlich zurück und frage, wo genau ich falsch berichtet habe. Ich biete auch mal ein Telefonat oder ein Treffen an und habe sogar solche User auch schon getroffen. Erstaunlicherweise ist das eine funktionierende Methode, um scharfen Anwürfen entgegenzutreten, wenn auch nicht bei allen. Wenn mich aber jemand nochmal und nochmal beleidigt, beende ich die Kommunikation.

Viele suchen noch den richtigen Umgang mit Kritik.
Sandra Müller
Ist es nicht das Anbieten eines solches Telefonates ein indirektes Eingeständnis, dass man sich zu weit von den Leuten entfernt hat?
Es ist manchmal so, dass man in der Schnelle der Arbeit Fehler macht oder einseitige Blickwinkel annimmt. Bei jeder Kritik an meiner Arbeit gehe ich nochmal einen Schritt zurück und frage mich, ob da vielleicht doch etwas dran ist: Habe ich einen Aspekt übersehen? Habe ich einseitig berichtet? Ich glaube, wir müssen von der Ansicht wegkommen, dass ein Reporter einfach nur recherchiert und ein Ergebnis präsentiert. Wir müssen unsere Arbeit erklären, unsere Zweifel darlegen und wenn Menschen uns kritisieren auch eine Erwiderung geben.

Was erklären Sie den Leuten am Telefon oder bei einem Treffen?
In Meßstetten haben wir davon berichtet, dass die Einwohner sich mehrheitlich bereit erklärt haben, die Erstaufnahmestelle noch einmal zu verlängern und uns das beeindruckt hat. Daraufhin haben sich bei uns andere Einwohner gemeldet, die gesagt haben, dass das nicht so sei und sie wiederum in ihrem Umfeld viele kennen, die das nicht wollen. Ich habe diesen Leuten erzählt, mit wem ich gesprochen habe, auf welchen Veranstaltungen ich war und warum ich zu dem Schluss kam, dass die Einwohner wohl mehrheitlich einverstanden waren mit der Aufnahmestelle.

Das heißt, der Journalist fährt wie Renate Künast in Zukunft durch das Land und klingelt an der Tür bei seinen Kritikern?
Es ist ja leider nicht so, dass ich ein journalistisches Produkt erstelle und hinterher drei Tage Zeit habe, mit den Konsumenten darüber zu sprechen. In der Wirklichkeit werde ich nur für den Produktionsprozess bezahlt. Ich habe mir im Rahmen des Projektes in Meßstetten mal einen Tag genommen und einen Artikel über die Kritik an dem Projekt geschrieben, aber das war dort budgetiert. Im tagesaktuellen Journalismus gibt es für die Nachverfolgung meines Produktes gar kein Budget und das ist ein Dilemma. Wer soll das machen? Ich glaube aber, dass diese Nachverfolgung richtig wäre.

Warum war eigentlich der Radiojournalismus merkwürdig still, als in den letzten Jahren Zeitungen und Onlinemedien sich wegen der Lügenpressevorwürfe selbst reflektiert haben?
Das ist eine gute Frage. Ich glaube, dass das Radio nicht als klassisches journalistisches Medium wahrgenommen wird, sondern vor allem als Unterhaltungsmedium. Das kann man bedauern, aber es ist bei vielen Hörern so, denn diejenigen, die lange Features hören, sind in der Minderheit. Die Frage ist, ob diejenigen, die sich tatsächlich die Zeit nehmen für lange Stücke, diese als ausgewogen empfinden und deswegen kaum Lügenpressevorwürfe kommen oder ob die Leute, die glauben, dass die Medien die Wirklichkeit nicht mehr abbilden, keine Radiohörer mehr sind? Vielleicht wird auch das Radio einfach nicht ernstgenommen? Ich weiß es nicht.

Auch in der Medienkritik war kaum ein Vorwurf zu hören.
Dass auf den feuilletonistischen Medienseiten das Radio kaum wahrgenommen und kritisiert wird, hat wahrscheinlich mit der schweren Konsumierbarkeit des Mediums zu tun. Man kann im Netz ganz schnell Artikel nachlesen, aber einen Radiobeitrag nachzuhören ist sehr viel umständlicher. Diesen Weg machen sich ja nicht einmal die Medienanalytiker. Ich bedaure das sehr, denn das Radio sollte ebenso bespiegelt werden wie die Tagespresse.

Wir erfassen das Lebensgefühl der Menschen nicht mehr.
Sandra Müller
Sie sind ein Teil derjenigen, die das Radio bespiegeln.
Wir sind mit der Organisation FairRadio aber auch fast die Einzigen, die das regelmäßig tun.

Lesen Sie auf der nächsten Seite: Was Sandra Müller am Radio bemängelt, warum Radio inzwischen in erster Linie als Unterhaltungsmedium wahrgenommen wird und Wort stets zeitlich limitiert wird.


Welche Hauptkritikpunkte haben Sie am eigenen Medium?
Die journalistische Arbeit kommt immer mehr unter Druck und selbst die großen Häuser müssen sparen. Dadurch fehlt oft das Budget und vor allem die Zeit, Themen hintergründig anzugehen. Man muss klar sagen: Was Katharina Thoms und ich in Meßstetten machen konnten, ist nicht der Normalfall. Wir konnten in dem SWR-Projekt viel Zeit darauf verwenden, den Puls der Leute zu fühlen und das machen wir Journalisten insgesamt zu selten. Oft machen wir Agentur- und Schreibtischjournalismus oder lesen schlaue Texte, um dann einen neuen schlauen Text zu generieren. Oder verarbeiten Statements aus Pressekonferenzen. Das erfasst aber nicht das Lebensgefühl der Menschen. Man ist nicht vor Ort. Radio ist aber da stark, wo es direkt aus dem Leben reportiert und erzählt. Und deshalb wünsche ich mir, dass das Radio diese Stärken weiter ausspielt, auch wenn es teuer und aufwändig ist.

Ich habe eine Woche lang mit ausführlichem Schreibtischjournalismus an der nächsten Frage geknobelt: Was kritisieren Sie am SWR?
Ich kritisiere am SWR nichts Grundsätzliches. Ich arbeite gern hier. Was nicht heißt, dass ich nicht als kritischer Geist im SWR bekannt wäre. Meine Redaktionskollegen kennen mich als eine, die oft rummäkelt und kritische Anmerkungen macht. Aber das ist Kritik, die zum journalistischen Alltag gehört. Nicht in so ein Interview.

Bei fairRadio kritisieren Sie weniger das große Ganze, von dem Sie eben sprachen, sondern eher das kleine Detail: Die Livestrecke zum Beispiel, die nicht live ist.
Das stimmt. Wir haben uns als Initiative aber auch darauf spezialisiert, radiospezifische Dinge zu kritisieren. Es nützt ja nichts, ein zweites ZAPP-Magazin oder ein zweites Übermedien zu sein, sondern spannend ist, nur auf das Radio zu gehen. Wie man eine Recherche angeht, ist aber vor allem ein allgemeinjournalistisches Problem. Wir wollen vor allem anschauen, wie durch Radioproduktion die Glaubwürdigkeit unterminiert wird und dazu gehört, dass man den Hörern kein Anlass zur Irritation oder Desillusion gibt. Wir sollten nichts machen, was den Hörer enttäuscht. Einem Hörer, der kein Medienexperte ist, kann man nur schwer erklären, dass ein Interview als live ausgegeben wird, aber schon gestern aufgezeichnet wurde. Manchmal ist es auch so, dass sie sich im Radio selbst hören, aber jemand anders plötzlich die Fragen stellt. Manchmal werden sogar ganz andere Fragen gestellt. Das geht nicht.

Wir sollten nichts machen, was den Hörer enttäuscht.
Sandra Müller
Wenn Radio vor allem als Unterhaltungsmedium wahrgenommen wird: Ist das der Grund, warum gerade junge Wellen fast nur journalistische Beiträge senden, die kürzer als zwei Minuten sind?
Ja, weil es die Sorge gibt, dass das Wort ein Abschaltfaktor ist. Deswegen gibt es ein Musikbett und deswegen sind die Beiträge möglichst kurz. Man suggeriert damit unterschwellig, dass das Wort gleich wieder vorbei ist.

Hören Sie sich mal die Nachrichten von DASDING an. Das ist so ziemlich das Beste, was im deutschen Radio gemacht wird.
Sandra müller
Ist es wirklich sinnvoll, Radiobeiträge auf das Nötigste zu kürzen und auf Unterhaltung und Service zu setzen in den Morningshows?
Hören Sie sich mal die Nachrichten von DASDING an. Das ist so ziemlich das Beste, was im deutschen Radio gemacht wird. Zwar haben die Nachrichten formal nichts mehr mit den Nachrichten des Deutschlandfunks zu tun, aber sie sind in ihrer Art und Tiefe vergleichbar. Man kann in anderen Formaten und auch in aller Kürze glaubwürdig und gut berichten. Die Leute glauben immer, dass ein 90 Sekunden Gespräch auf dem Sender sinnlos sei, aber das stimmt so nicht. Die große Kunst ist, in dieser Zeit die wichtigen Dinge unterzubringen. Und diese 90 Sekunden zu machen, dauert oft genauso lang wie ein langer Beitrag.

Aber Sie müssten doch eigentlich weinen, wenn Sie sehen, dass das Internet das Radio schon lange als schnelle Informationsquelle überholt hat und gleichzeitig das Radio dennoch oft nur Häppchenjournalismus anbietet. Welche Rolle hat das Radio denn noch?
Wir befinden uns in einem Umbruch, den wir alle auch erst einmal mitgehen müssen: Wir sind nicht mehr das schnellste Medium. Was machen wir jetzt? Ich glaube, es gibt nichts Persönlicheres als die menschliche Stimme und das menschliche Erzählen. Kein Medium ist so nahe an den Menschen wie das Radio. In der Wortwahl und der Tonalität, die nur das Radio rüberbringen kann, steckt einfach Authentizität drin. Die Erfahrung zeigt: Wenn man mit einer Kamera kommt, verhalten sich Menschen ganz anders. Ein guter Radioreporter kann dagegen die Situation begleiten mit seinen kleinen, unscheinbaren Geräten und nicht an einem Ort verharren, um sich Statements abzuholen.

Die große Kunst ist, in 90 Sekunden alles Wichtige unterzubringen.
Sandra Müller
In sprachlicher Hinsicht ist das Radio vielleicht persönlicher, in musikalischer Hinsicht ist aber Spotify viel persönlicher. Wie viel Angst haben Sie vor Spotify?
Ich habe gar keine Angst vor Spotify. Radiomacher sollten erkennen, dass sie nicht mehr alleine die größten Hits spielen können, sondern dass das jetzt jeder machen kann. Deswegen braucht es auch gute Moderatoren: Sympathische Stimmen, ein Freund, mit Raum zu Persönlichkeit, ohne vorgestanzte Sätze und Claims. Radio muss wieder etwas erzählen und wenn ich jemanden zuhören soll, möchte ich, dass derjenige auch eine Persönlichkeit hat.

Aber Sie haben eben in mein Mikrofon gesagt, dass Wort ein Abschaltfaktor ist und ein Musikbett braucht.
Das glauben einfach viele Radiomacher und das ist traurig. Die Kunst der Stunde ist, gutes Wort zu machen. Warum werden Podcasts in den USA millionenfach heruntergeladen? Da wird mit Geschichten, starken O-Tönen und Stimmen Begeisterung entfacht.

Dann sind Sie bei SWR4 aber beim falschen Sender. Wann wechseln Sie zum Deutschlandfunk?
Das finde ich gar nicht. Ich finde es im Gegenteil unglaublich erfüllend hier.

Am Montag ist Weltradiotag. Feiern Sie nachher noch mit den Kollegen?
Wann wurde das Gespräch nochmal aufgezeichnet? Im Ernst: Ich feiere das Medium Radio dann, wenn ich ein spannendes Stück für das Radio machen kann.

Vielen Dank für das Gespräch. Und jetzt Musik?!
12.02.2017 12:13 Uhr  •  Sascha Blättermann Kurz-URL: qmde.de/91088