«Deutschland sucht den Superstar»: Warum schauen wir’s?

Als Format aus dem Bereich des Affektfernsehens emotionalisiert die RTL-Castingshow wie kaum eine andere Sendung. Eine medienpsychologische Betrachtung der Erfolgsfaktoren von «DSDS».

Zur Medienpsychologie

Die Medienpsychologie ist ein Zweig der Psychologie, der sich in der Forschung mit der Beschreibung, Erklärung und Prognose des Erlebens und Verhaltens, das mit Medien verknüpft ist, beschäftigt. Kern der Medienpsychologie als psychologische Teildisziplin, ist die Untersuchung des Handelns, des Denkens und des Fühlens im Zusammenhang mit der Nutzung von Medien.
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„Weil mein Ruf kaputt geht, net deiner!“, schreit Pietro Lombardi Richtung Kamera. Der Ausruf erfolgt unter aggressiver Gestik und einem zur Fratze verzerrten Gesicht, als Höhepunkt einer Reihe ordinärer Äußerungen, mutmaßlich in Richtung seiner mittlerweile Ex-Partnerin Sarah Lombardi. Das ins Internet hochgeladene Video markierte den Höhepunkt einer medialen Schlammschlacht zwischen den beiden Fernsehstars Sarah und Pietro, die von den sozialen Medien und der Boulevardpresse mit Hohn und Spott begleitet wurde. Tatsächlich fiel es einigen Beobachtern, die Realityformaten und den Charakteren, die diese Jahr für Jahr hervorbringen, kritisch gegenüber stehen, nicht schwer, die Amateuraufnahme als hochkomisches Produkt des für Viele ohnehin zweifelhaften Ruhms zweier Medien-Personen zu brandmarken. Man kann das Video gleichzeitig jedoch auch als tragisches Resultat eines fragwürdigen Umgangs zweier Menschen mit sich und der Öffentlichkeit verstehen, der beiden im Zuge ihres medialen Aufstiegs als Königsweg verkauft wurde.

Die achte Staffel der Musik-Castingshow «Deutschland sucht den Superstar» diente dem späteren Pärchen und Ehepaar als Sprungbrett für ihre musikalische und mediale Karriere. Pietro Lombardi, der seinen Lebensunterhalt nach dem Verlassen der Hauptschule ohne Abschluss mit einem Minijob auf 400 Euro-Basis verdiente und die aus Köln-Hürth stammende Sarah Engels, gelangten durch den Einsatz ihrer stimmlichen Talente nicht nur auf Platz eins und zwei der Talentsuche und damit zu lukrativen Plattenverträgen, sondern durch ihre Begegnung im Rahmen der TV-Show auch zu privatem Glück. Das ist die eine Seite der für viele glänzend schimmernden Medaille «DSDS», die ihrem Gewinner Erfolg und Ruhm verspricht.

«DSDS» – Affektfernsehen par excellence


Für die Gesangstalente und jene, die sich für eines halten, ist die Teilnahme am Fernsehformat jedoch auch mit Kosten verbunden, die sich materiell nicht beziffern lassen und daher von vielen Kandidaten umso bereitwilliger in Kauf genommen werden. Dabei soll der Umstand außer Acht gelassen werden, dass die Castings, die zu großen Teilen dazu genutzt werden, untalentierte und abgedrehte Persönlichkeiten der Lächerlichkeit preiszugeben, immer mehr Raum im Format einnehmen. Nein, ein Grund für die eskalative Natur des in der Öffentlichkeit ausgetragenen Privatlebens seitens des Ehepaars Lombardi, ist viel mehr die Zugehörigkeit von «Deutschland sucht den Superstar» zum Genre des „Affektfernsehens“.

Den Begriff Affektfernsehen prägten im Jahre 1997 die Medienpsychologen Gary Bente und Bettina Fromm. Die Bezeichnung bezieht sich auf solche Fernsehangebote, die sich in ihrem Programm auf Einzelschicksale und die emotionalen Befindlichkeiten der Protagonisten beziehen, wobei häufig die Grenze zwischen Privatsphäre und Öffentlichkeit überschritten wird. Bente und Fromm, die sich in ihrer Arbeit vor allem auf die damals im Fernsehen sehr präsenten und populären Mittagstalks im Privatfernsehen konzentrierten, formulierten vier zentrale Merkmale von Affektfernsehen: Personalisierung, Authentizität, Intimisierung und Emotionalisierung. Weiter erheben Formate des Affektfernsehens den Anspruch, Realität abzubilden, wobei vorwiegend nichtprominenten Menschen Raum gegeben wird, ihre eigene Person oder ihr persönliches Schicksal im authentischen Bericht oder in direkter Selbstdarstellung vor dem Publikum darzulegen.

«DSDS» fällt bei Weitem nicht als einziges Format im Privatfernsehen in dieses Schema, neben den angesprochenen einst populären Talksendungen wie «Hans Meiser», «Arabella» oder «Britt – Der Talk um eins», weisen zahlreiche weitere moderne TV-Formate die Charakteristika des Affektfernsehens auf, darunter auch Suchshows, Beziehungsshows wie «Der Bachelor» oder «Herzblatt» und Gameshows. Warum «Deutschland sucht den Superstar» nach dem Abebben der Talkwelle mittlerweile exemplarisch für das Affektfernsehen steht, lässt sich schon an der Vorgehensweise der Produktion im Vorfeld der Ausstrahlungen erkennen, gleichwohl über diese aufgrund der in Bezug auf «DSDS» häufig diskutierten „Knebelverträge“ nicht allzu viel bekannt ist.

"Hast du schon einmal Nacktfotos machen lassen?"


Fest steht, und diese Vorgehensweise hat sich trotz zahlreicher Jurywechsel und Modifikationen am Sendekonzept hinsichtlich der Castings oder der Live-Shows nicht geändert, dass das RTL-Casting sehr früh darauf bedacht ist, ein sehr persönliches Bild der potenziellen Musikstars zu vermitteln, was meist in den Recalls erstmals intensiver betrieben wird. In arbeitsrechtliche Erklärungsnöte brachte ein Bericht des „Stern“ 2010 die für «DSDS» verantwortliche Produktionsfirma Grundy Light Entertainment, heute UFA Show&Factual GmbH. Der Beitrag deckte auf, dass allen 120 Kandidaten, die die erste Runde von «Deutschland sucht den Superstar» überstanden, auf 17 Seiten über 130 teilweise sehr intime Fragen vorgelegt wurden, die diese zu beantworten hatten. Darunter: „Warst du in den letzten fünf Jahren wegen einer schweren körperlichen oder psychischen Krankheit in Behandlung? Falls ja, bitte detaillierte Angaben.“, „Hast du schon einmal Nacktfotos machen lassen? Wer hat die Abzüge/Negative? Gibt es ungewöhnliche Videoaufnahmen von dir?“ „Gefällt dir dein Körper? Bitte detaillierte Begründung.“, „Wie lange hat deine letzte Beziehung gedauert, und warum ist sie gescheitert?“

Simone Lenzen, die damalige Pressesprecherin von Grundy Light Entertainment, erklärte daraufhin in einem Statement: „Das Konzept «DSDS» ist u.a. deshalb so erfolgreich, weil die Zuschauer und Fans in der Sendung nicht nur die oder den Musiker oder Sänger kennen lernen - sondern in so genannten Einspielern auch den Menschen dahinter. Mit seinen Hobbies, Familie, Freunden und auch Problemen, die zum Alltag dazu gehören. Deshalb interviewen wir die Kandidatin sehr ausführlich zu all diesen Themen.[…]“ Aus musikökonomischer Sicht macht die Vorgehensweise Sinn, schließlich lernen die Zuschauer und späteren potenziellen Käufer oder Konzertgänger die Kandidaten früh kennen, es entsteht im besten Fall eine Bindung zwischen Konsument und Künstler, die später zu einer gesteigerten Aufmerksamkeit führt.

Doch die Produzenten versprechen sich sicherlich auch einen unmittelbaren Effekt auf die Fernsehzuschauer und ihre Programmauswahl. Lenzen argumentierte damals weiter, dass die Produktion bewusst private Details abfrage, um eventuellen Berichten der Boulevardpresse zuvorzukommen und diese zu entwaffnen. Diese Aussage wird dadurch konterkariert, dass die „BILD“-Zeitung «DSDS» seit jeher intensiv begleitet, teilweise mit mehrtägigen Kampagnen über die Moderatoren, die Mitglieder der Jury, aber auch über die Kandidaten und ihr Umfeld als Resultat halboffener Kooperation zwischen Show und Zeitung. Obendrein zeichnete sich «DSDS» ein ums andere Mal dadurch aus, die privaten Geschichten und Hintergründe ihrer Kandidaten, mutmaßlich auch diese, die im Vorhinein per Fragebogen ermittelt wurden, als Teil der Sendung medienwirksam zu inszenieren, um nicht nur eine gesteigerte Aufmerksamkeit der Fernsehzuschauer zu erhalten, sondern eben auch der Boulevardpresse, die die Themen weiter ausschlachtete. Personalisierung, Authentizität, Intimisierung und Emotionalisierung – und dem Zuschauer steht beim Ansehen der Mund offen.

Die Schlüsselrolle unserer Emotionen


Doch was verspricht sich UFA Show&Factual von der emotionalisierenden Wirkung von «DSDS»? Gleich mehrere psychologische Theorien geben Hinweise auf die Vorteile des Affektfernsehens gegenüber Formaten mit weniger emotionsinduzierenden Reizen. Als zentrale Bestandteile unserer mentalen Architektur kann sich der Mensch schon rein evolutionsbedingt etwaigen Hinweisreizen aus seiner Umgebung nicht entziehen, da er gelernt hat, diese durch entsprechende Stimuli zu aktivieren und damit auch kognitive und physiologische Prozesse in Gang zu setzen, um möglichst schnell darauf zu reagieren. Nach dem „Sense of Reality“-Konzept von Ortony und Kollegen aus dem Jahr 1988 hängt die Intensität einer Emotion unter anderem davon ab, wie sehr die Person die emotionsinduzierenden Reize und Situationen als real erlebt, weshalb eine höher empfundene Authentizität der Inhalte auch emotionalisierender wirkt.

Die Telepräsenz-Forschung argumentiert weiter, je intensiver die Eindrücke des Mediums sind, umso weniger kognitive Kapazitäten entfällt auf die Verarbeitung nicht-medialer Wahrnehmungen. Der Zuschauer wird nach dadurch regelrecht in das Gesehene hineingezogen. Diesen „Involvement“-Effekt belegten seither zahlreiche emotionspsychologische Untersuchungen, vorwiegend mit Filmen. Betrachtet man den Umstand, dass «DSDS» vor allem bei jugendlichen Zuschauern auf eine hohe Resonanz stößt, denen häufig noch die Fähigkeit zur Reflektion des Gesehenen abgeht, könnte die Wirkung und damit die Bindung des Gesehenen zum Zuschauer noch intensiver sein. In der bereits angesprochenen Arbeit von Bente und Fromm befassen sich die Autoren auch selbst im Rahmen einer Studie mit den Mediennutzungsmotiven des Affektfernsehens. Interessanterweise ergab die Befragung einer repräsentativen Stichprobe aus der Gesamtbevölkerung, dass vor allem Zuschauer, die sehr viel Wert auf Sicherheit, Moral und Anstand legen, Affekt-TV-Sendungen bevorzugen.

Die Autoren interpretieren das Ergebnis so, dass diese Formate auch eine soziale Funktion erfüllen. Jedes Thema darin kann am nächsten Tag zum Gesprächsthema werden. Solche Zuschauer, die in ihrem eigenen Leben in einem eher moralischen Umfeld verkehren, ermöglicht eine Sendung wie «DSDS» somit die Diskussion über im Affektfernsehen dargestellte Tabuthemen, über die Gespräche ohne Medienreiz gar nicht erst zustande gekommen wären, obwohl unbewusst ein Bedürfnis für deren Behandlung besteht. Zwar sind diese Erklärungsansätze keine Fakten, dass die gelernte Vorgehensweise von «DSDS» allerdings die gewünschten Effekte mit sich bringt, zeigte die mittlerweile lange Tradition des Affektfernsehens in aller Welt jedoch deutlich.

Pietro und Sarah Lombardi wurden nicht nur durch ihr Gesangstalent, sondern auch maßgeblich durch das Offenlegen ihres Privatlebens und die öffentlich gelebte Liebe zueinander zu TV-Stars. Durch ihre Zeit bei «DSDS» lernten die beiden Sänger, welche Vorteile diese Aufgabe der Privatsphäre mit sich bringen kann. Folgerichtig begleiteten seitdem offenherzige Beiträge in den sozialen Medien oder verschiedene Doku-Soaps bei RTL II ihr Leben, während die Musikkarriere weitestgehend brachliegt. Dass diese Entscheidung umso schmerzhaftere Folgen haben kann, wenn das private Glück in die Brüche geht, erfahren Pietro und Sarah dieser Tage.

So hat auch ein vom Grimme-Institut veröffentlichtes Statement zur RTL-Show noch heute Gültigkeit. Darin würdigte das Institut Stefan Raabs «SSDSGPS» als Gegenentwurf zu Sendungen wie «DSDS» - „gelackten Megaveranstaltungen, wo mit bigottem Ernst suggeriert wird, echte Superstars zu kreieren, tatsächlich aber synthetische Sangesmarionetten installiert werden, zum schnellstmöglichen kommerziellen Gebrauch, mit Nachhaltigkeitsfaktor Null – es sei denn, sie existieren in einer Witzfigurenfunktion für die Klatschpresse weiter.“
04.01.2017 22:16 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/90360