«Der heiße Stuhl» bei RTL: Anklagebank deluxe

Nach 22 Jahren kehrt die systematische Provokation wieder zurück in den Polit-Talk. «Der heiße Stuhl» feiert eine Neuauflage, und wir haben die erste krawallige Folge mit Thilo Sarrazin gesehen.

Das Original

  • Moderatoren: Olaf Kracht / Uli Meyer
  • Laufzeit: 1989 - 1994
  • Gesamtanzahl Sendungen: 159
  • Zuschauerzahlen: Teils über fünf Millionen, am Ende rund 2,5 Millionen
  • Die Sendung gehörte indirekt zur Reihe «Explosiv» und hieß damals auch «Explosiv - Der heiße Stuhl»
Eigentlich hatten ihn die meisten schon vergessen. Seine Thesen – damals empörend und provokativ zugleich – gab es lange vor Pegida, lange vor der Neo-Fremdenfeindlichkeit, lange vor dem Aufstieg der AfD. 2010 erschien „Deutschland schafft sich ab“, das Buch dieses Mannes, in dem er Albtraumszenarien für das Land porträtierte. Danach wurde es stiller um ihn, Thilo Sarrazin. Mitglied der SPD ist er immer noch, medienwirksame Interviews hat er in letzter Zeit nicht gegeben, trotz der nationalkonservativen Entwicklungen.

Jetzt ist Sarrazin der erste Gast von «Der heiße Stuhl», der Neuauflage eines Polit- und Gesellschaftstalks mit Krawallcharakter. Die Sendung ist nicht nur eine Fußnote in der Fernsehgeschichte, prägte sie doch wesentlich den Charakter des Privatfernsehens in seinen wilden, frühen Jahren. 1989 startete das Format, damals ganz bewusst unter der Prämisse der lauten Provokation. RTL wollte und musste als junger Privatsender auf sich aufmerksam machen, den etablierten Öffentlich-Rechtlichen mit allen Mitteln Marktanteile abnehmen. Es war die Zeit der anrüchigen Bilder und Töne: von nackten Frauen in «Tutti Frutti» oder Softpornos zur Nachtzeit, von damals ungekannten Action-Spielshows wie «Die 100.000 Mark Show» oder von verbalen Schlägereien am Nachmittag.

Und eben von «Explosiv – Der heiße Stuhl». Damals löste die Sendung gesellschaftliche Debatten aus: Rosa von Praunheim outete dort Hape Kerkeling und Alfred Biolek als homosexuell, ein Sportler befürwortete die Legalisierung von Doping, selbst Angela Merkel war zu Gast. Ihre These damals: „Das Fernsehen zeigt zu viel Gewalt.“ Es grenzt an Ironie, dass Merkel diese These in einer Sendung vertrat, in der sich Menschen hemmungslos anbrüllen durften.

RTL wäre nicht abgeneigt, würde das Format erneut ein solches Echo auslösen. Am späten Montagabend startete die Neuauflage mit eben jenem Gast Thilo Sarrazin auf dem Stuhl, Moderator ist «Stern TV»-Mann Steffen Hallaschka. Das Konzept: Sarrazin stellt eine provokante These auf, dann diskutiert er über sie gegen vier weitere Gäste. Dem Moderator kommt unter anderem die Aufgabe zu, das zu tun, was die Berufsbezeichnung eigentlich aussagt: Aus dem Lateinischen übersetzt bedeutet moderare mäßigen, in Schranken weisen, regeln. Wenn es zu ruhig wird, geht es in die andere Richtung: Dann heizt der Moderator die Diskussion selbst mit provokanten Fragen und Videos an.

«Der heiße Stuhl» bei RTL: Fakten gegen Fakten


Sarrazins These: Muslime sind grundsätzlich gewaltbereiter als andere Bevölkerungsgruppen. Seine Gegner: ein Grünen-Politiker, eine muslimische Autorin, ein Vertreter der Polizeigewerkschaft und eine Schauspielerin. Die Diskussion, sie dreht sich mehr oder weniger stark um diese eine These, die Sarrazin gebetsmühlenartig wiederholt, und die alle anderen ablehnen. „Das ist Fakt“ ist eine der fast minütlich genannten Phrasen, von beiden Seiten. Ziemlich schnell sind wir an einem Punkt, an dem man sich gegenseitig der Lüge bezichtigt – und der Zuschauer wird inmitten der zunehmenden Diskussionslautstärke etwas ratlos zurückgelassen: Wer hat denn nun recht, wessen Faktenlage stimmt? Eine Meinung kann man sich kaum bilden; nur sehr selten untermauert Steffen Hallaschka die Thesen mit dringend benötigten Zahlen.

Heiß her geht es durchaus in dem Talk, der seinem Titel damit alle Ehre macht. „Sie haben einfach keine Ahnung“, poltert Sarrazin irgendwann und erntet dafür großen Applaus. Er erntet also Applaus für plumpe Anfeindung, und keineswegs für ein Argument. Liberalere Meinungen werden dagegen ausgebuht und lächerlich gemacht. Auch so kann man auf unterbewusste – vielleicht gefährliche – Art Ressentiments schüren. Es wird von Scheinwelten geredet, von postfaktisch, von „ich habe Sie festgenagelt“, von „Rassismus in Reinform“ und von gutmenschlicher Ignoranz. Suggestiv präsentiert Hallschka zwei junge Frauen, die von einem Flüchtling vergewaltigt wurden – die Talkshow-berühmten Einzelschicksale. Dass er später noch ein Positivbeispiel für das Zusammenleben von Flüchtlingen und Polizisten vorstellt, nützt dann auch nichts mehr. Das Publikum hat sich auf Sarrazins Seite geschlagen.

«Der heiße Stuhl» bewegte sich immer auf einem schmalen Grat zwischen Meinungsmache und Meinungsbildung. In der Neuauflage ist dieser schmale Grat noch nicht ganz gelungen: Zwar bringt der aggressive Ton eine dringend benötigte Frische in die sonst glattgebügelte Polittalk-Landschaft. Damit ist man durchaus unterhaltsam. Doch gleichzeitig bleibt zu viel Leerlauf bei der Meinungsbildung, die beispielsweise Frank Plasberg bei «Hart aber fair» großartig beherrscht. Mehr Zahlen von Hallaschka oder kurze Statistiken in Videoclips würden dem Format weiterhelfen. In diesem Sinne wäre eine Fortsetzung wünschenswert. Ob der heiße Stuhl auch 2017 besetzt wird, ist allerdings offen: Man wolle das Format nur anlassbezogen und unregelmäßig senden, heißt es bei RTL. Faktisch bedeutet das auch: Mal die Einschaltquoten abwarten.
13.12.2016 00:30 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/89932