Die Kino-Kritiker: «Nichts passiert»

Konfliktscheue, die weh tut: Devid Striesow mimt in der Schweizer Kinoproduktion einen Familienvater, der von einem schweren Verbrechen erfährt. Doch beim Duckmäuser heißt es: „Harmonie um jeden Preis!“

Filmfacts «Nichts passiert»

  • Regie und Buch: Micha Lewinsky
  • Darsteller: Devid Striesow, Maren Eggert, Max Hubacher, Annina Walt, Lotte Becker, Stéphane Maeder, Beta Marti
  • Produktion: HC Vogel
  • Kamera: Pierre Mennel
  • Schnitt: Gion-Reto Killias
  • Musik: Marcel Blatti
  • Laufzeit: 92 Minuten
  • FSK: ab 12 Jahren
Es ist ein aus dem Leben gegriffenes Schreckensszenario: Da übernimmt man einmal zusätzliche Verantwortung, und schon geht alles furchtbar schief. Genau dies widerfährt dem Familienvater Thomas (Devid Striesow). Und das ausgerechnet während des Urlaubs. Dabei hat Thomas den Tapetenwechsel dringend nötig. Zwischen ihm und seiner Gattin Martina (Maren Eggert) kriselt es, Tochter Jenny (Lotte Becker) macht die üblichen, pubertären Stimmungsschwankungen durch. Und in beruflicher Sicht läuft es, seit Thomas in einem Moment des alkoholisierten Überschwangs ausgetickt ist, ebenfalls nicht mehr wirklich rund. Um sich beim Chef einzuschleimen, nimmt Thomas daher kurzerhand die Tochter seines Vorgesetzten mit auf den Trip in die Schweizer Berge. Sarah (Annina Walt) erntet bei Jenny allerdings keine Sympathiepunkte, so dass sich Thomas gezwungen sieht, irgendwie für Frieden zwischen den Teenagerinnen zu sorgen.

Als die Mädels auf eine Party eingeladen werden, lässt er sie gegen Martinas Willen davonziehen – der Gutelaunebär Thomas könnte ja niemals jemandem etwas ausschlagen. Eine Entscheidung, die Thomas alsbald bereuen wird. Denn als er seine zwei Schützlinge wieder abholen will, trifft er im überschaubaren Tal eine aufgelöste Sarah an, die ihm ein grausiges Geheimnis mitteilt. Daraufhin verstrickt sich der harmoniesüchtige Thomas in ein Netz aus deeskalierenden Lügen ...

Autor und Regisseur Micha Lewinsky («Die Standesbeamtin») legt den Schwerpunkt seiner Erzählung zunächst auf Dramatik mit Bodenhaftung. Striesow spielt Thomas wie einen Jedermann, der zwar mit seinen nach eigenen Aussagen überkommenen Aggressionsproblemen eine gewisse Vergangenheit hat, im Jetzt aber betont alltäglich handelt. Das Gebot der Beschwichtigung ist ihm von hoher Bedeutung, und so säuselt Striesow Meinungsverschiedenheiten und Beschwerden innerhalb seiner Urlaubsgemeinschaft unaufgeregt hinfort. Sanftmütig leuchten seine blauen Augen, während er es seinen Mundwinkeln nur selten erlaubt, etwas anderes zu formen, als ein Lächeln – denn so ein Skiurlaub soll eine stressfreie Zeit sein!

Selbst nachdem Thomas von Sarahs schockierender Neuigkeit erfährt, bleibt sein Tonfall freundlich und ruhig. Die Vorbildlichkeit seines Harmoniestrebens bekommt allerdings alsbald Risse. Denn so löblich es sein mag, dass er im ersten Augenblick die verstörte Jugendliche zu besänftigen und ihr so ein Gefühl der Geborgenheit zu geben versucht, so fragwürdig ist sein längerfristiges Handeln: Thomas will sich nicht die Schuld auflasten, dass dem Mädchen etwas auf der Party widerfahren ist, auf die er sie hat gehen lassen. Und vor seinem Chef möchte er auch nicht unverantwortlich dastehen. Also beschwichtigt er Sarah weiter und weiter und weiter – bis die Fürsorglichkeit aus seiner Stimme entschwindet und die Empathie in seinem Gesicht einer kühl kalkulierten Miene weicht.

Striesow beherrscht es meisterlich, mit körperlichem Spiel eine Figur zu erschaffen, die eine Fassade der Freundlichkeit aufrecht erhält, und bei der es glaubhaft ist, dass ihr Umfeld darauf hereinfällt. Dem Publikum, das auch Momente verfolgt, in denen Thomas allein ist, und das obendrein in leinwandfüllenden Nahaufnahmen alle Details in seinen Regungen erkennen kann, bekommt derweil die wahren Beweggründe des Ängstlings mit: Selbsterhaltung allein regiert das Denken dieses vermeintlichen Lamms, das in der Not jedoch weder Freund noch Feind kennt.

Der «Ich bin dann mal weg»-Hauptdarsteller skizziert Thomas‘ ethischen Schlingerkurs eindrucksvoll und mit kleinen Gesten, während Lewinsky kontinuierlich die Fallhöhe steigert: Je linkischer Thomas vorgeht, je verzweifelter seine Ausflüchte werden, desto rabenschwarzer wird der Humor, der in den Dialogzeilen mitschwingt. Wenn auf die unfassbarsten Situationen weiterhin mit rückgratlosen Schönwettersprüchen gekontert wird, darf einem wiederholt das Lachen im Halse stecken bleiben. Gleichzeitig machen Striesows sich verhärtender Blick und die immer ärger konstruierten Wendungen deutlich, dass die Lage zu kippen droht. Gestützt von der unter die Haut gehenden, sensiblen Darbietung von Annina Walt als fragile, eingeschüchterte Sarah wandelt sich aus dem anfänglichen Alltagsdrama nach und nach ein mutiger Mix aus Psychodrama und knochentrockener, rabenschwarzer Groteske.

Diese Metamorphose von «Nichts passiert» mag im ersten Moment übertrieben dramatisch erscheinen, jedoch dient sie als pointierter Widerspruch des Titels. Zudem lässt sie Lewinskys dritte Regiearbeit von einem stark dargestellten Dilemma zu einer leinwandreif überspitzten Ausnahmesituation emporklettern. Lewinsky hält dem alltäglichen Wegschauen-statt-Handeln-Kurs und dem gesellschaftlichen Mangel an Zivilcourage nicht bloß einen Spiegel vor, sondern strickt aus dieser Mentalität eine Parabel mit Ecken und Kanten, die weh tun.

Fazit: Toll gespielt, bissig und dramatisch: «Nichts passiert» ist ein Psychodrama mit bitterbösem Humor, das mit Nachdruck die Frage stellt, wie lange man schweigen kann, ehe man zum Täter wird.

«Nichts passiert» ist ab sofort in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
11.02.2016 11:43 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/83701