«American Crime Story»: If It Doesn't Fit, You Must Acquit

Der Prozess des (vergangenen) Jahrhunderts wird von FX nun als Anthologieserie erzählt. Jan Schlüter und Julian Miller haben den Piloten gesehen. Im First Look sagen sie, warum die Serie das Must-See-TV von morgen wird.

Jan Schlüter

Cast & Crew

  • Idee: Scott Alexander und Larry Karaszewski nach der Buchvorlage «The Run of His Life»
  • Darsteller: Sterling K. Brown, Kenneth Choi, Christian Clemenson, Cuba Gooding, Jr., Bruce Greenwood, Nathan Lane, Sarah Paulson, David Schwimmer, John Travolta, Courtney B. Vance
  • Ausf. Produzenten: Brad Falchuk, Brad Simpson, Nina Jacobson, Ryan Murphy, Alexander, Karaszewski
  • Regie (Pilot): Ryan Murphy
  • Produktion: Scott & Larry Prod., Color Force, Ryan Murphy Prod., FXP, FOX 21
  • Sender: FX
Die letzte Szene der großen Premierenfolge von «American Crime Story», sie zeigt einen Wagen, wie er auf dem Highway in Richtung Long Beach fährt. Zwar etwas schneller als üblich, aber nicht allzu auffällig. Es ist die Szene, in der das eigentliche Chaos beginnt: In dem Auto sitzt O. J. Simpson, er flieht vor der Polizei. Am Morgen zuvor wurde er zum Hauptverdächtigen in einem Doppelmord erklärt.

Das ist also die letzte Szene, mit der eigentlich alles anfängt, dieser legendär-abstruse Prozess gegen den ehemaligen Football-Star O.J. Simpson. Es ist die Szene, mit der das Chaos seinen Lauf nimmt (später wird die Polizei in einer Verfolgungsjagd Simpson stellen). Insofern gerät der Auftakt von «American Crime Story» vergleichsweise gesittet: Zwei Menschen werden ermordet in einem Reichenviertel von Los Angeles, dort, wo eigentlich jeder unter sich bleibt. Die Opfer sind ein Unbekannter – und Nicole Brown Simpson, O. J.s Ex-Frau. Schnell rückt er selbst in den Mittelpunkt, man findet seine DNA-Spuren am Tatort und weitere Beweise. Die Polizei – sie stellt sich sonst gern gut mit den Schönen und Reichen der Stadt – kann nicht mehr anders und stellt Simpson unter Mordverdacht.

«American Crime Story» zoomt hinein in die beiden Gegenpole der Geschichte: in die Arbeit der Polizei und das Leben von O. J. Simpson, hier extrovertiert gespielt von Cuba Gooding, Jr. Beide Parteien werden gleichmäßig detailreich beleuchtet, beide auf unterschiedliche Art. Die Ermittler, kalt und berechnend dargestellt, in blauen Farben und in kargen Büros. Simpson und seine Entourage verweilen in sonnendurchtränkten Villen, warme Farben dominieren. Der Bruch ist eklatant, als diese Welt langsam bröckelt – und wir als Zuschauer wissen, dass Simpson schon bald Abschied nehmen muss vom warmen, freien Los Angeles. Einzige Konstante in diesen Szenen ist Robert Shapiro, grandios kontemplativ gespielt von John Travolta: O. J.s neuer Anwalt, der die Polizei im Zaum hält. Und auf alle Eventualitäten vorbereitet sein will: Er lässt unter andrem einen Psychiater anrücken.

Ein schauspielerischer Hochgenuss ist diese Serie, übrigens mit einigen altbekannten «American Horror Story»-Gesichtern. Jegliche Vergleiche zum Horror-Format verbieten sich allerdings, denn «American Crime Story» ist weder verrückt im Ryan-Murphy-Stil noch exaltiert, wie es beispielsweise seine anderen Formate «Glee» oder «Screen Queens» waren. Nein, diese True-Crime-Story ordnet sich eher ein in Namen wie «Making a Murderer», «The Jinx» oder den Podcast «Serial», die sich allesamt größter Beliebtheit erfreuen. So trifft «American Crime Story» absolut den Zeitgeist: Originalaufnahmen aus der damaligen Zeit – der echte Fall O.J. Simpson ereignete sich 1994 – erwecken ihn zum Leben.

Und dann ist diese Serie noch viel mehr als das allein, und der Untertitel «The People vs. O. J. Simpson» ist nicht nur als die juristische Floskel zu verstehen, mit der in amerikanischen Strafprozessen die Sitzung eröffnet wird: Diese Serie erzählt, wie Meinung gemacht wird in den Medien, und wie Fragen von Hautfarbe und Vorurteilen die Gesellschaft spalten. Und ist damit – nicht nur in den USA – aktueller denn je.

Julian Miller

Weitere fesselnde True-Crime-Formate

  • Die erste Staffel von Sarah Koenigs Podcast «Serial» über den Mord an der Marylander High-School-Schülerin Hae Min Lee
  • Die zweite Staffel von «Serial» über den mutmaßlichen Deserteur Bowe Bergdahl
  • Die neue Netflix-Serie «Making a Murderer» über einen nach langer Haft entlasteten Sexualstraftäter im ländlichen Wisconsin
Der Prozess gegen O.J. Simpson fand nicht im luftleeren Raum statt. Die Morde an seiner Ex-Frau und Ronald Goldman ereigneten sich im Sommer 1994 nur knapp zwei Jahre nach den Rodney-King-Unruhen: Als Los Angeles nach dem Freispruch von vier weißen Polizisten, die brutal auf den am Boden liegenden King eingedroschen hatten, in Flammen stand. Als sich koreanische Ladenbesitzer auf den Dächern ihrer Geschäfte verschanzten und auf Plünderer schossen. Als King den (heute legendären) Satz Can’t we all get along? prägte. 53 Menschen kamen bei den Ausschreitungen zu Tode, über 2000 wurden verletzt, bis die kalifornische National Guard die Metropole wieder unter Kontrolle bringen konnte.

Der O.J.-Simpson-Fall war ein potentielles Pulverfass. Schwarze Männer, die weiße Frauen schänden und umbringen, waren ein seit Jahrhunderten rassistisch aufgeladenes Motiv in der amerikanischen Gesellschaft. Und schnell zeigte sich, dass diese hintergründige kulturelle Verwerfung gar nicht vordergründig sein musste: Angesichts eines bis ins Mark rassistischen Police Detectives, der seine rassistischen Ausfälle großspurig leugnete, ehe er sie kleinlaut zugeben musste, und den man durchaus verdächtigen konnte, den Tatort mit kompromittierendem Beweismaterial versehen zu haben, das auf Simpson deuten sollte. Und war dieser Mann nicht nur ein Symptom, das Symptom für einen von institutionellem Rassismus durchsetzten Polizei- und Justizapparat? Rodney King, anyone?

Amerika war gespalten, entlang ethnischer Trennlinien wie ideologischer. Doch dabei darf man nicht vergessen: Amerika war gleichzeitig – wenn auch auf eine perverse Art – verdammt gut unterhalten. Der Stoff um die Morde an Nicole Brown Simpson und ihrem (mutmaßlich platonischen) Freund Ronald Goldman war vollgestopft mit allerhand juicy tidbits, die nicht nur in boulevardesker Aufbereitung bald Talk of the Town waren. Der Gang der Ereignisse des Prozesses war ein einziger Nervenkitzel: Simpsons brillanter Verteidiger Johnny Cochran.. Eine hoffnungslos überforderte Staatsanwaltschaft, die dem erstklassigen Team von Simpsons Strafverteidigern kaum etwas entgegensetzen konnte, trotz unaufhörlicher Streitereien. Simpsons legendäre Flucht im weißen Ford Bronco, die live im landesweiten Fernsehen übertragen wurde. Bonmot am Rande: Auf den O.J.-Simpson-Prozess verwendeten die amerikanischen Networks mehr Sendezeit als auf den Bosnienkrieg und den Anschlag auf Oklahoma City zusammen.

Und auch über zwanzig Jahre nach der Urteilsverkündung, beschäftigt uns dieser Fall noch. In Form eines noch heute polarisierenden gesellschaftlichen Ereignisses, in dem sich zwei Lager feindlich gegenüberstehen: Die, die in Simpson einen brutalen Mörder sehen, der wegen juristischer Taschenspielertricks freigekommen ist. Und jene, die im In-Dubio-pro-Reo den Triumph des Rechtsstaates erkennen, even if he might have done it.

Nicht zuletzt genießt der O.J.-Simpson-Prozess aber als ein relevantes Ereignis in der jüngeren Geschichte der amerikanischen Race Relations eine politische wie soziale Bedeutung. Wenn in Baltimore und Ferguson die Innenstädte in Flammen stehen und die Polizei mit den halbautomatischen Waffen im Anschlag durch die Straßen patrouilliert, weckt das Erinnerungen an Rodney King und den Prozess um O.J. Simpson, dessen Urteil, wäre es anders ausgefallen, leicht zu neuen, vielleicht noch brutaleren Ausschreitungen hätte führen können. Genauso freilich die schockierenden Handy-Videos, die ein erschreckendes Ausmaß an (rassistisch aufgeladener) Polizeibrutalität zeigen.

FX hat gut daran getan, diesen Stoff in der ersten Staffel seiner neuen Anthologie-Serie «American Crime Story» noch einmal zu erzählen. Weil er spannend, dramatisch, polarisierend und nicht zuletzt relevant für die amerikanische Gegenwart ist. Dabei ist der Serie zumindest im Piloten eine angenehme Balance zwischen einer harten, fast journalistischen Aufarbeitung und einer stimmig-unterhaltsamen Rückschau auf eines der polarisierendsten und spannendsten Water-Cooler-Ereignisse im Amerika der neunziger Jahre gelungen.
04.02.2016 12:30 Uhr  •  Jan Schlüter & Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/83596