Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 309: «0137» - Eine Talkshow, die einen Kannibalen, einen Bankräuber, einen Pornostar und ein paar Terroristen zu Wort kommen ließ und dafür sogar mehrfach ausgezeichnet wurde.
«0137» wurde im Frühjahr 1991 geboren und war ein gezieltes Mittel, um den neuen Pay-TV-Anbieter Premiere bekannt zu machen. Dieser hatte nämlich am 28. Februar seinen Sendebetrieb aufgenommen und strahlte neben einem hauptsächlich codierten Programm einzelne Formate auch unverschlüsselt aus, wodurch diese selbst für Nicht-Premiere-Kunden zugänglich waren. Aus der daraus erzielten Werbewirkung hoffte man, möglichst viele neue Abonnenten für das kostenpflichtige Angebot anlocken zu können. Dafür sollte der Kanal einige revolutionäre Ansätze entwickeln, aus denen Klassiker wie «Studio/Mohr», «Kalkofes Mattscheibe» und «Zapping» hervorgingen.
Ein winziges, in schmucklosem grau gehaltenes Studio, in dem lediglich ein genauso schmuckloser Tisch stand, bot den Rahmen für das ambitionierte Vorhaben. Auf Zuspielfilme, Straßenumfragen, Animationen oder ein Studiopublikum wurde vollends verzichtet. Zuweilen waren die Gäste nicht einmal im Studio zugegen, sondern nur über einen Bildschirm zugeschaltet. Geschuldet war dies dem geringen Produktionsbudget, das nicht einmal die Verwendung von kostenpflichtigem Bildmaterial zuließ. Diese puristische Aufbereitung erwies sich bald als die eigentliche Stärke des Formats, denn so lag die Aufmerksamkeit ausschließlich auf den eindrucksvollen Gesprächen, was vielen Kritikern gefiel.
Für deren hervorragende Qualität war hauptsächlich der Moderator Roger Willemsen verantwortlich, was deswegen erstaunlich war, weil es sich hierbei um seine erste Arbeit vor einer Kamera handelte. Zuvor war der 35jährige Autor und Literaturwissenschaftler bei einem Casting aufgefallen und geradewegs engagiert worden. Insbesondere in dieser Unerfahrenheit mit dem Medium Fernsehen sah der SPIEGEL im Juni 1991 dessen besonderen Vorteil: „Willemsen hat vor dem Medium keinen Respekt. Er bemüht sich nicht, besonders witzig oder brillant zu wirken. Lieber verläßt er sich auf seine profunde humanistische Bildung und die Fähigkeit zum Zuhören.“ Ähnlich euphorisch fiel das Urteil des Journalisten Reinhard Lüke aus, der Willemsens „konzentrierte Zurückhaltung“ hervorhub, die ihn im deutschen Fernsehen „so leicht keiner nach“ mache.
Nun musste wiederum für Willemsen eine Vertretung gefunden werden. Die Wahl fiel auf Sandra Maischberger, die zuerst an «Live aus dem Alabama» mitwirkte und danach an der Seite von Erich Böhme Politiker in «Talk im Turm» befragte. Sie stand für den Vorabend von Premiere ab 1992 als zweite Gastgeberin zur Verfügung und überzeugte mit ihrer Diskussionsleitung ähnlich wie ihr Kollege. Gemeinsam mit ihrer Redaktion, die inhaltlich auf die Zuarbeit des Verlags Gruner+Jahr zurückgreifen konnte, gelang es ihnen stets, die enorme Bandbreite an Themen sowie die heikle Gratwanderung zwischen Sensationslust und ernsthaftem Journalismus zu meistern. Zugleich verhinderten sie, dass boulevardeske, intime oder kontroverse Themen allzu reißerisch aufbereitet oder in die Schmuddelecke gerieten.
Auf der eindrucksvollen Liste der Beteiligten fanden sich Politiker wie der PLO-Vorsitzende Yassir Arafat und der Postminister Christian Schwarz-Schilling genauso wie die Pornodarstellerin Sibylle Rauch, der Geiger Yehudi Menuhin oder die Hollywood-Stars Katharine Hepburn und Warren Beatty. Mal lud man ein an Leukämie erkranktes Kind ein, mal einen erfahrenen Autoknacker, mal Angehörige von Mauerschützenopfern und mal einen Sexualexperten. Darüber hinaus erzählte eine ehemalige Geliebte von Fidel Castro davon, wie sie diesen im Auftrag der CIA ermorden sollte. Derweil berichtete ein verurteilter Häftling von seinem Leben in einer amerikanischen Todeszelle. Reinhard Häfner, damals Trainer bei Dynamo Dresden, äußerte sich zur Gewalt von Fußballfans, ein anderer Mann gestand öffentlich von seiner eigenen Mutter vergewaltigt worden zu sein und ein Professor nahm vor der Kamera zu dem Vorwurf Stellung, dem Bundeskanzler ein Ei an den Kopf geworfen zu haben. Es kam aber auch der Japaner Issei Sagawa zu Wort, der eine junge Frau erschossen und anschließend teilweise verspeist hatte. Mitunter gelangen der Redaktion spektakuläre Coups, etwa wenn man live ins All zum Kosmonauten Sergej Krikalew oder am Tag der Rassenunruhen in Los Angeles zum Bürgerrechtler Jesse Jackson schalten konnte. In einer Sonderausgabe durfte Willemsen zudem mit drei inhaftierten RAF-Terroristen in der JVA Celle sprechen. Am denkwürdigsten sollte allerdings der Auftritt des frisch aus dem Gefängnis ausgebrochenen Bankräubers Roland Wedlich geraten, der die Talk-Bühne nutzen wollte, um über die unzureichenden Haftbedingungen zu sprechen. Dies bewirkte, dass die Polizei während der Live-Ausstrahlung das Studio umstellte und ihn umgehend verhaftete.
Nach rund zwei Jahren, 600 Einsätzen und über 1.000 Gesprächen verließen Willemsen und Maischberger das Team, um sich eigenen Projekten beim ZDF und bei VOX zu widmen. Ihre Nachfolge traten am 15. Februar 1993 die Journalisten Margret Deckenbrock und Hubert Winkels an. Sie setzten die Sendung für etwa ein Jahr in unveränderter Tradition fort, bis die Verantwortlichen von Premiere mit rund 800.000 Abonnenten genug zahlende Kunden versammelt hatten, um die zwar angesehene, aber unrentable Werbeaktion einstellen zu können.