Der Fernsehfriedhof: Ein Krimi zum Umschalten

Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 303: Nutten, Koks und Fernbedienungen. Ein interaktives TV-Ereignis, bei dem die Zuschauer ausdrücklich zum Wechseln des Senders aufgefordert wurden.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken wir eines TV-Movies, dessen Form und weniger seine Handlung im Vordergrund stand.

«Mörderische Entscheidung» wurde am 15. Dezember 1991 sowohl im Ersten als auch im ZDF geboren und entstand zu einer Zeit, als die deutsche Fernsehlandschaft mit grundlegenden Veränderungen konfrontiert war. Dazu gehörte, dass die wachsende Verbreitung von Videorekordern, Kauffilmen und Leihkassetten, das klassische, lineare Fernsehen mit seinen festen Sendezeiten zunehmend als starr, passiv und unflexibel erscheinen ließ. Zugleich sorgte die immer stärkere Etablierung von kommerziellen Anbietern für eine stetig steigende Anzahl an TV-Stationen, die um die Gunst des Publikums konkurrierten. Bestand bis Ende der 80er Jahre in den meisten Haushalten noch die Auswahl zwischen einer Handvoll Sendern, verdoppelte sich diese Zahl innerhalb kürzester Zeit. Die frühere, absolute Vormachtstellung der öffentlich-rechtlichen Anstalten begann dadurch stetig zu schwinden. Begünstigt wurde diese Entwicklung zusätzlich durch den technischen Fortschritt, der dazu führte, dass nahezu jeder Haushalt mit einer Fernbedienung ausgestattet war. Der Wechsel von einem Kanal zu einem anderen wurde dadurch leichter als je zuvor. Untersuchungen aus jener Zeit glaubten sogar belegen zu können, dass nur noch ein bis zwei Prozent der Zuschauer einen kompletten Spielfilm durchhalten könnten, ohne zwischendurch umher zu zappen.

In diesen bewegten Zeiten brachten der WDR und ZDF ein bislang einmaliges Projekt auf den Weg, dass all diesen Entwicklungen begegnen sollte. Sie schufen einen Fernsehfilm, bei dem die Zuschauer aktiv werden mussten und erhoben dafür das sonst aus Sicht der Programmmacher störende Umschalten zum entscheidenden Element. „Wenn die Leute schon ,switchen’, setzen wir uns an die Spitze dieses Trends“, ließ der zuständige WDR-Redakteur im Vorfeld selbstbewusst verlauten.

Auf den ersten Blick handelte es sich zunächst um einen klassischen Krimi mit einer recht konventionellen Story. Darin traf der erfolglose Comiczeichner Stefan zufällig auf die mysteriöse Christine, in die er sich prompt verliebte und die er fortan versuchte wiederzufinden. Allerdings geriet er in eine Drogenverschwörung, die einem seiner Hefte hätte entsprungen sein können. Es ging um verstecktes Kokain, eine nackte Frau mit aufgeschnittenen Pulsadern und einen Psychopathen, der Prostituierte erwürgte. Und irgendwie hing all dies mit der geheimnisvollen Christine zusammen.

Der Clou war es nun, dass der Film zeitgleich im Ersten und im ZDF gezeigt wurde. Für die Dauer der ersten zwölf Minuten glichen sich die Ausstrahlungen bei beiden Programmen noch exakt, doch ab dem Moment, als sich die Wege von Stefan und Christine erstmals trennten, zeigten auch die beiden Sender die Handlung nur noch aus der jeweiligen Perspektive einer Figur. Im ZDF-Programm folgte man den Erlebnissen von Stefan, während das Erste in die Welt von Christine eintauchte. Im ZDF sah man somit Stefan, der durch die Straßen irrte und allerhand brenzlige Situationen durchleben musste, während das Erste enthüllte, dass Christine gar nicht so brav und unschuldig war, wie sie im ZDF auf Stefan wirkte. Tatsächlich nämlich arbeitete sie für eine spektakuläre und zynische Talkshow, in der unter anderem eine Auschwitz-Überlebende auf ihren früheren Aufseher traf. Dabei war der skrupellose und koksliebende Moderator Octave nicht nur Christines Chef, sondern zugleich ihr Geliebter. Das Erste lieferte damit eher einen Psychokrimi, derweil die ZDF-Version die Züge eines Actionthrillers trug. Die verschiedenen Teile wurden zusätzlich optisch hervorgehoben, denn im ZDF-Pendant, in dem Stefan zu sehen war, dominierten kühle, metallisch-blaue Farben und dunkle Szenen. Bei Christine hingegen, die in der aufregenden Welt der (TV)-Prostitution lebte, herrschten verruchte, rote Töne vor.

Die Verzahnung beider Varianten war so angelegt, dass man jederzeit umschalten und die Perspektive wechseln konnte, denn stets befanden sich beide Stränge an der selben Stelle der gemeinsamen Handlung. Das begann bei kleinen Details wie Uhrzeiten oder Wettersituationen und setzte sich über komplexe Verflechtungen fort. So stand Stefan beispielsweise in einer Szene im ZDF vor einem Haus, während das Erste parallel offenbarte, was sich innerhalb des Gebäudes zutrug. Oder, man sah im Ersten eine Szene, die sich im TV-Studio ereignete, die im ZDF hingegen als Übertragung auf einem Fernseher erschien. Auf die Spitze trieb man dies in einigen Dialogen, die konsequent jeweils aus der entsprechenden Perspektive aufgenommen wurden. Nur wer also hin- und herschaltete, bekam das breite Bild der Geschichte mit. Entsprechend trug das Ergebnis den Beinamen „Umschalten erwünscht“. Weil dies jederzeit erfolgen und jeder Zuschauer dies unabhängig vom restlichen Publikum für sich allein entscheiden konnte, bekam jeder einen anderen Film serviert, nämlich jenen, den man sich selbst zusammengestellt bzw. selbst konstruiert hatte.

Medial betrachtet, schlugen die verantwortlichen Redakteure mit diesem Konzept gleich mehrere Fliegen mit einer Produktion. Einerseits reagierten sie nicht einfach nur auf die Zapping-Lust der Zuschauer, sondern ermutigten sie sogar dazu, diese zu noch steigern. Gleichzeitig versuchten sie aber zu gewährleisten, dass keine Umschaltimpulse zu den privaten Wettbewerbern aufkamen. Die Botschaft lautete quasi, wenn schon Zappen, dann nur innerhalb des öffentlich-rechtlichen Systems. Damit demonstrierten die beiden großen Anstalten, die in der Vergangenheit allzu oft miteinander wetteiferten, einen gemeinsamen Schulterschluss gegen die kommerziellen Angreifer von RTLplus, Sat.1 und Co. Diese Kampfansage zeigte sich ebenso innerhalb des Films auf inhaltlicher Ebene, nämlich in Form der zynischen Fernsehshow, die eine eindeutige Anspielung auf die damaligen Krawallshows der Privatsender darstellen sollte.

Andererseits zeigten die Macher, welche innovative Kraft das als phlegmatisch verschriene Medium Fernsehen noch in sich tragen konnte. Sie bewiesen, dass die technischen und inhaltlichen Möglichkeiten des 60jährigen Mediums noch längst nicht erschöpft waren. Durch die von den Zuschauern frei wählbare Erzählperspektive mithilfe von zwei Kanälen bot das traditionelle Fernsehen plötzlich einen Erzählstil an, den es nur im Fernsehen – nämlich nur dort wo man in der Lage war, leicht zwischen zwei Bilderquellen umherzuschalten - geben konnte. Eine solche zugleich individuelle als auch massenmediale Seherfahrung war weder im Kino noch mit den neuen Videorekordern möglich. Ein Erlebnis, das sich selbst rückwirkend nur schwer rekonstruieren lässt. Ein Erlebnis, das nur genau einmal, gerade aufgrund der Linearität des Fernsehens funktioniert hat.

Für die Umsetzung dieses ungewöhnlichen Vorhabens war der deutsche Regisseur Oliver Hirschbiegel zuständig, der zuvor lediglich einige herkömmliche TV-Filme inszeniert hatte. Er lieferte zudem die Grundidee, auf der das Drehbuch von Tony Grisoni basierte. Damit das aufwendige Werk auch ins Ausland exportiert werden konnte, wurden sämtliche Szenen direkt in englischer Sprache gedreht und die Hauptrollen mit dem Franzosen Nils Tavernier (Stefan), der Spanierin Mapi Galán (Christine) sowie dem Iren Michael Byrne (TV-Moderator Octave) international besetzt. Als deutsche Gesichter waren Brigitte Mira und Rolf Zacher in Nebenrollen dabei. Tatsächlich lief das Event außerhalb Deutschlands noch in Österreich, Spanien, Italien und den Niederlanden – überall ebenfalls auf zwei Sendern.

So medial spannend das Experiment gewesen sein mag, stieß es bei vielen Zuschauern und Kritikern auch auf Missfallen, die sich von der Angst, etwas wichtiges verpassen zu können, getrieben sahen und letztlich beklagten, die Handlung nicht mehr genießen oder vollständig verstehen gekonnt zu haben. Dies formulierte damals unter anderem der Journalist W.-F. Muthmann in der Zeitschrift Gong: „Höchstens an seinem Nervenkostüm wird Schaden nehmen, wer wie gewünscht unentwegt hin- und herschaltet zwischen ARD und ZDF. Nur: Von dem raffinierten Psycho-Thriller hat sicherlich mehr, wer sich nur von einem Kanal fesseln lässt. Da hilft auch das Zweit- direkt neben dem Erstgerät nichts, aufmerksam verfolgen lässt sich nur ein Bild.“ Eine Gefahr, welcher die Autoren zwar dadurch begegnen zu versuchten, indem die entscheidenden Szenen gleichzeitig auf beiden Kanälen zu sehen waren – zum Teil aus verschiedenen Kameraperspektiven - doch dies schien nicht ausreichend gewesen zu sein, um alle Skeptiker zu beruhigen.

Dennoch erreichte das Resultat am Sonntagabend um 21.00 Uhr mit beiden Teilen eine durchschnittliche Gesamtreichweite von 13,76 Millionen Zuschauern. Obwohl zu jener Zeit herkömmliche TV-Filme und -Serien regelmäßig ebenso über zehn Millionen Menschen anlocken konnten und der «Tatort» auf dem selben Programmplatz auf nur einem Sender meist vergleichbare Sehbeteiligungen erzielen konnte, war dies für die ungewöhnliche und sperrige Kost kein katastrophales Ergebnis. Das Ereignis war angesichts dieser Zahlen aber auch kein überragender Erfolg. Erst recht nicht, wenn man bedenkt, dass die Vorbereitungszeit rund sechs Jahre betragen hat und die Kosten mit ca. vier Millionen DM doppelt so hoch wie selbst bei teuren Krimis waren. Dass die Quotensensation ausblieb, lag vielleicht daran, dass der Bruch mit dem gewohnten Fernsehverhalten für viele Zuschauer zu groß war. Vielleicht verstanden viele nicht, dass es zum Konzept dazu gehörte, Informationen zu verpassen. Vielleicht lag es schlicht daran, dass ihnen der zuweilen sehr übertriebene, bemüht mysteriöse Streifen mit seinen oft platten Dialogen und banalen Klischees als solches nicht gefallen hat. Ganz unabhängig von allem Zapping und Switching.

Viel interessanter als die Gesamtreichweite war ohnehin die Frage, wie sich die Werte verteilen würden, also welche Erzählweise, welche Perspektive, bei den Zuschauern mehr Anklang finden würde. Ob nun der blaue Actionstreifen oder der rote Psychothriller? Mit 6,99 Millionen Zuschauern im Ersten gegenüber 6,77 Millionen Zuschauern im ZDF ließ sich gerade dazu jedoch kein eindeutiges Urteil fällen, schließlich waren die Werte fast identisch und damit weder Fisch noch Fleisch. Wohl nicht zuletzt wegen der wenig aussagekräftigen Ergebnisse, sorgte das Experiment bedauerlicherweise für keine nachhaltigen Impulse in der Branche. Weder wurde eine ähnliche Aktion je wiederholt noch von den etablierten Erzählkonventionen dauerhaft abgerückt. Erst im Jahr 2003 veranstaltete RTL II mit der Aufführung von «Jack Point Jack» einen vergleichbaren Versuch, bei dem (auf eine andere Weise) erneut eine fiktive Narration mit interaktiven Elementen kombiniert wurde.

«Mörderische Entscheidung – Umschalten erwünscht» hinterließ den Regisseur Oliver Hirschbiegel, der später mit seinem Kinohit «Das Experiment» den endgültigen Durchbruch erlangte. Sein Werk «Der Untergang», in dem er die letzten Tage von Adolf Hitler im Führerbunker schilderte, erhielt dann sogar weltweite Beachtung und war unter anderem als bester fremdsprachiger Beitrag für einen Oscar nominiert. Zuletzt veröffentlichte er die von Kritikern wenig gelobte Biografie «Diana» mit Naomi Watts als Lady Di. Übrigens, passend zum Beruf der männlichen Hauptfigur von «Mörderische Entscheidung» wurde ein begleitendes Comicheft veröffentlicht, in dem die Handlung des Projekts zusätzlich vermarktet wurde.

Möge der Film in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint am Donnerstag, den 26. Februar 2015.
29.01.2015 11:10 Uhr  •  Christian Richter Kurz-URL: qmde.de/75991