Der Fernsehfriedhof: Feuchte Nächte

Christian Richter erinnert an all die Fernsehformate, die längst im Schleier der Vergessenheit untergegangen sind. Folge 292: Der kultigste Bildschirmschoner des deutschen Fernsehens.

Liebe Fernsehgemeinde, heute gedenken der wahrscheinlich billigsten Sendung in der deutschen Fernsehgeschichte.

Das «ORB Aquarium» wurde im Jahr 1992 beim damals noch existierenden Ostdeutschen Rundfunk Brandenburg (ORB) geboren und entstand zu einer Zeit, als die meisten deutschen Kanäle ihren Sendebetrieb nach Mitternacht bis zum Start des Morgenprogramms noch unterbrachen. Anfangs war dann lediglich ein Rauschen oder das Testbild zu empfangen, bevor ab Herbst 1982 ARD und ZDF begannen, die Randzeiten im Rahmen von «Videotext für alle» mit ausgewählten Bildtafeln des Teletexts zu bestücken. Als dann die kommerziellen Unternehmen RTLplus und ProSieben ein Rund-um-die-Uhr-Angebot mit Blick auf Schichtarbeiter einführten, füllten sie die nächtlichen Stunden hauptsächlich mit Wiederholungen, die (wenig überraschend) mehr Zuspruch als die üblichen Testbilder fanden. Bald zogen die restlichen TV-Stationen nach und beschlossen, die sogenannte Nachtlücke zu schließen.

Auch das gerade erst gegründete öffentlich-rechtliche ORB Fernsehen wollte es vermeiden, nach 0.00 Uhr ein unattraktives Testbild zu zeigen, sah sich aber gleichzeitig aus Kostengründen außer Stande die Nächte mit "echtem" Inhalt bespielen zu können. Als Notlösung griffen die Verantwortlichen auf ein altes Experiment aus Norwegen zurück, bei dem in den 1970er Jahren das Publikum mit Aufnahmen von Zierfischen unterhalten wurde. Der ORB adaptierte diese Idee und schuf auf diese Weise einen unverwechselbaren Lückenfüller. Dafür platzierten sie eine Kamera vor einem gar nicht so spektakulären Aquarium, in dem eine Handvoll Fische schwammen, ließen es von hinten von einer Lampe bestrahlen und filmten das Ergebnis ab. Bei der Ausstrahlung wurde zusätzlich noch der Live-Ton der ORB-eigenen Rundfunk-Station Radio Brandenburg eingespielt und fertig! Simpler kann Fernsehen nicht sein.

Nach den ersten Abenden gingen in der zuständigen Redaktion einige Beschwerden ein, in denen Befürchtungen geäußert wurden, dass die Fische verhungern könnten. Schließlich war nie zu sehen, wie sie gefüttert wurden. Andere Zuschauer wiesen besorgt darauf hin, dass die unbeaufsichtigte Lampe den Tieren ernsthafte Schäden zufügen könnte. Derartige Bedenken waren jedoch unbegründet, denn es handelte sich bei den Aquariums-Impressionen niemals um Live-Übertragungen, sondern um immer dieselbe 30minütige Aufzeichnung, die zu einer Dauerschleife montiert wurde.

Derartige Vorbehalte sollten aber die Ausnahmen bleiben, denn wie schon in Norwegen erfreute sich der schlichte Aufbau einer unglaublichen Beliebtheit. Die Zuschauer fanden großes Gefallen an dem beruhigenden Wasserleben, das einen angenehmen Kontrast zum hektischen und lauten (Privat-)Fernsehen dieser Zeit bot. Regelmäßig sahen daher zwischen 01.00 Uhr und 09.00 Uhr bis zu 10.000 Menschen den Fischen bei ihren Runden zu - manchmal mehr als beim Spielfilm davor. Im September 1992 erreichte das Aquarium mit einem Marktanteil von 37,5 Prozent sogar einen Rekordwert, der für den kleinen ORB unfassbar hoch war.

Spätestens zu diesem Zeitpunkt war der unscheinbare Wassertank Kult geworden, den jeder Einwohner in Berlin und Brandenburg kannte. Das ebenfalls zum ORB gehörige Jugendradio Fritz kreierte daraufhin eine regelmäßige Comedyreihe, in denen die Kunstfigur Mike Lehmann als angeblicher Besitzer und Fütterer der Tiere Tipps für die Fischzucht gab. Parallel diskutierten Aquaristen in einschlägigen Foren über die korrekte Zusammenstellung der zu erkennenden Fische. Angeblich sollen insgesamt zwanzig Schleierschwänze, zehn Plati, sechs Fadenfische und ein Goldfisch zu erkennen gewesen sein.

Der große Erfolg des „Bildschirmschoners“ führte schnell dazu, dass andere Sender ebenso versuchten, ähnlich beruhigende Nachtschleifen zu produzieren. Das Erste begann beispielsweise ab 1995 damit, Kameras in den Führerständen von Eisenbahnen zu installieren und zeigte unter dem Titel «Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands» regelmäßig Zugfahrten aus Sicht der Lokführer. Das ZDF folgte kurz darauf mit einem ähnlichen Konzept und platzierte die Kamera auf dem Beifahrersitz eines Autos, das durchs Land fuhr. Im Berliner Regionalfernsehen B1 konnten schlaflose Zuschauer indessen mit den städtischen S-Bahn- und später U-Bahnen(!) mitfahren, während der MDR die Linien der Leipziger Straßenbahn übertrug. Derweil bekam man bei VOX zuerst Aufnahmen von kalifornischen Stränden und ab 1997 für fast zehn Jahre lang in «Rave Around The World» endlose Bilder von tanzenden Partygästen an exotischen Stränden oder auf Kreuzfahrtschiffen zu Trance-, Techno- und Ambient-Music zu sehen. Bei SuperRTL prasselt noch heute stundenlang ein gemütliches Kaminfeuer, auf arte führen Menschen in Schafkostümen Bocksprünge auf und der Bayerische Rundfunk präsentiert in seiner fast täglichen «Space Night» seit 1994 endlose Aufnahmen von Weltraum-Satelliten. Etwas frivoler geht und ging es beim DSF bzw. Sport 1, bei Das Vierte sowie beim ehemaligen 9Live zwischen Abend- und Frühprogramm zu, denn dort sollten «Sexy Sport Clips», «Heiße Girls» und ähnliche Inhalte die Stunden nach Sendeschluss überbrücken. Doch keines dieser Formate erhielt einen derart legendären Status wie die Zierfische aus Brandenburg. Trotzdem war nach der Zusammenlegung des ORB mit dem SFB kein Platz mehr für die beliebten Schuppentiere, sodass sie letztlich vom Schirm verschwanden.

Das «ORB Aquarium» wurde im Februar 2004 beerdigt und erreichte ein Alter von zwölf Jahre. Im Rahmen der Aktion "Slowtime" wurde es allerdings im Januar 2014 von Radio Eins wiederbelebt und kann seither auf der zugehörigen Website noch einmal in voller Länge angeschaut werden. Übrigens, die Regionalstation TV.Berlin, ein direkter Konkurrent im Sendegebiet des ORB, reagierte direkt auf den Erfolg und ließ einige barbusige Wassernixen in einem Schwimmbad als Dauerschleife plantschen.

Möge die Sendung in Frieden ruhen!

Die nächste Ausgabe des Fernsehfriedhofs erscheint ausnahmsweise erst am kommenden Freitag und widmet sich dann einer Parodie auf die großen Gameshows der 90er Jahre.
26.06.2014 11:05 Uhr  •  Christian Richter Kurz-URL: qmde.de/71504