Mälzer, Lichter, Rach – Über die Invasion des Kochens im Fernsehen

Kaum ein TV-Thema hat in den letzten zehn Jahren einen solchen Aufschwung erlebt wie das des Kochens: Fast jeder Sender probiert sich an Kochsendungen, ob im Realitygenre, als Show oder als Reportage. Warum ist Kochen heute im Fernsehen allgegenwärtig?

Denkt man an Essen, so denkt man an Italien. Oder an Frankreich und Spanien, an die europäischen Südländer mit ihrer mediterranen Kost. Dass die Deutschen einmal die Weltmeister im Kochen sind, würde niemandem sofort in den Sinn kommen. Blickt man aber auf das heutige Fernsehprogramm mit all seinen Sendungen um kulinarische Gaumenfreuden, könnte man genau diesen Eindruck gewinnen: Es gibt klassische Kochformate wie «Tim Mälzer kocht» oder das jüngst eingestellte «Lanz kocht»; moderne Kochsendungen mit unterhaltenden Elementen wie «Die Küchenschlacht» und «Topfgeldjäger»; Reality-Formate wie «Die Küchenprofis» oder «Rach, der Restauranttester»; Reportagen und Dokumentationen wie «Lichters Schnitzeljagd» und «Die kulinarischen Abenteuer der Sarah Wiener» sowie Koch-Eventshows wie «Die Promi-Kocharena» oder das demnächst als Casting startende «Hell’s Kitchen» in Sat.1. Dem Braten, Grillen, Dünsten und Backen kann man als Otto-Normalzuschauer kaum noch entkommen – zumindest im TV sind wir Deutschen mittlerweile die Weltmeister des Kochens.

Vor Jahrzehnten hat das Fernsehen die Kochkünste bereits für sich entdeckt. 1937 experimentierte der Franzose Marcel Boulestin bereits im englischen Fernsehen, bei der BBC, mit der Zubereitung von Speisen vor der Kamera. Rund 15 Jahre später kam das Genre auch nach Deutschland. Schauspieler Clemens Wilmenrod ging als erster hiesiger Fernsehkoch in die TV-Geschichte ein, auch für seine Erfindungen wie den „Toast Hawaii“. Zur Berühmtheit wurde ein Infrarotgrill mit dem Namen „Heinzelkoch”, den Wilmenrod oft für die Zubereitung seiner Speisen verwendete. Loriot soll sich bei seinem späteren Sketch um den „Einhandsaugblaser Heinzelmann“ an jenes Gerät erinnert haben.

Viele Jahrzehnte blieb das TV-Kochen eine beliebte, aber verkrustete Nische: Zielgruppe waren die Hausfrauen, die ihrem Mann ein schmackhaftes Essen zubereiten sollten; die männlichen Fernsehköche wurden als Profis zu den Vorbildern der laienhaften Hausfrau. Glaubt man der These vom Fernsehen als Spiegel der Gesellschaft, so setzten sich die ab den 70ern aufbrechenden Verhältnisse langsam auch medial durch: Das Sinnbild der Frau als Heimchen am Herd, vor allem lange in der Werbung propagiert, verschwand von den Bildschirmen. Ersetzt wurden die strengen Profi-Fernsehköche vor allem mit: Alfred Biolek. Er erfand ab 1994 die Kochsendung neu – als Unterhaltungsprogramm, bei dem das Kochen nicht mehr primärer Aufhänger war. Sondern die Kombination aus Kochen und unterhaltenden Elementen – in diesem Fall die teils intimen Gespräche mit prominenten Gastköchen. Biolek schuf eine vertraute Atmosphäre mit seiner Studioküche, die jahrelang unverändert blieb. Legendäre Sendungen wie jene mit Helmut Berger oder Harald Schmidt zeigten den unvergleichlichen Reiz des Formats.

Mit zeitweise über drei Millionen Zuschauern am Samstagnachmittag wurde «alfredissimo» zur erfolgreichsten Kochsendung im deutschen Fernsehen. Sie ebnete den Weg für die modernen Kochshows, und für die Entwicklung zu einem Fernsehprogramm, das von jungen Starköchen nachhaltig geprägt wird. Den Anfang dieser Entwicklung machte Ralf Zacherl, der im März 2003 mit «Zacherl: einfach kochen!» erster Vertreter dieser neuen Generation war. Die inhaltlichen Zutaten, die später Tim Mälzer und Steffen Henssler Erfolge bereiten sollten, waren hier schon vorhanden: Kochen sollte einfach sein, unkompliziert und vor allem schnell. Keine extravaganten Zutaten, kein penibles Achten auf das Rezept. Trotzdem scheiterte die Sendung an der Quote; zu wenige Zuschauer begeisterten sich am werktäglichen Vormittag für das Format. Über ein Jahr hielt ProSieben trotzdem bis zur Absetzung durch, auch weil Unilever die Sendung als Sponsor mitfinanzierte.

Den eigentlichen Weg zum Kochboom ebnete aber Tim Mälzer, der im Dezember 2003 mit seiner VOX-Sendung «Schmeckt nicht, gibt’s nicht!» einen Überraschungserfolg landete. Geplant war diese eigentlich als kurzfristiger Ersatz für das «Kochduell», das seit 1997 bei VOX zu sehen war und den von Alfred Biolek eingeschlagenen Weg des unterhaltenden Kochens auf die Spitze trieb: In der Sendung mussten Starköche mit Zuschauern in 15 Minuten aus zufällig zusammengestellten Zutaten ein Gericht zaubern.

Mit dem unkonventionellen Tim Mälzer und seiner vermittelten Einfachheit des Kochens traf VOX dann den richtigen Zuschauernerv. Das «Kochduell» wurde als werktägliche Show abgesetzt, Mälzer durfte ab März 2004 jeden Vorabend den Kochlöffel schwingen – mit riesigem Erfolg: Über 1,5 Millionen Zuschauer hatte das Format im Schnitt, eine wahnsinnige Reichweite für den damals noch kleinen Privatsender. Mit diesen Zahlen wurde «Schmeckt nicht, gibt’s nicht!» auf Anhieb zur erfolgreichsten Kochshow im deutschen Fernsehen, vor allem beim jungen Publikum. Mit acht Prozent bei den werberelevanten Zuschauern erschloss Mälzer eine ganz neue Zielgruppe, die TV-Köche wie Johann Lafer oder Alfred Biolek zuvor kaum erreicht hatten.

Damit einher ging auch der folgende Boom moderner Kochformate. TV-Köche wurden zu Marken, zu Stars – einige schienen mehr Zeit im Fernsehstudio zu verbringen als in ihren Restaurants. Diejenigen mit den größten Entertainerqualitäten, wie Henssler, Lichter und Mälzer, bekamen mehrere eigene Shows und wurden zu prägenden Gesichtern der modernen TV-Küche. Einige von ihnen gehen heute mit Live-Programmen auf Tour, werden fast wie Popstars gefeiert. Und andere – wie Alfons Schuhbeck – verkaufen unter ihrem Namen Gewürze im Supermarkt und Gourmet-Burger bei McDonalds.

Aber wie kommt es dann, dass immer weniger Menschen selbst richtig kochen, weil sie keine Zeit haben oder es nicht können? Weshalb wird nur noch in jedem dritten Haushalt regelmäßig gekocht, während ein Fünftel der Bundesbürger mehrmals pro Woche eine Kochsendung einschaltet? Warum steigen die Absatzzahlen für Convenience-Produkte – also einfach zubereiteter Fertigspeisen – immer weiter an, und gleichzeitig erfahren Kochshows in den letzten Jahren einen solch enormen Publikumszuspruch? „Es ist die Sehnsucht nach einer heilen Welt, nach Erfüllung, die die Zuschauer vors Kochfernsehen locken“, sagte Johann Lafer 2008 in einem Interview mit dem „Spiegel“. Wenn jemand im TV koche, so Lafer, habe das etwas von Ersatzbefriedigung. „Trotzdem wäre es schön, wenn unsere Bemühungen von etwas mehr Erfolg gekrönt wären und mehr Zuschauer dadurch wieder Freude am Kochen finden würden.“

Ähnlich argumentiert US-Starkoch Anthony Bourdain, der mit seinem Sachbuch «Kitchen Confidential» im Jahr 2000 berühmt wurde. Kochshows vergleicht er mit Pornographie: „Beides zeigt Menschen, wie sie etwas tun, was die meisten Zuschauer zuhause nie tun würden.“ Trotzdem präsentierte Bourdain mehrere Kochshows, arbeitet mittlerweile für CNN als kulinarischer Reisereporter. Die emotionale Ersatzbefriedigung, die das mediale Kochen vermitteln soll, scheint einleuchtend. Schließlich ziehen viele Genres ihren Erfolg aus der Tatsache, dass sie unsere Wünsche über den Bildschirm trapsortieren – Reisedokumentationen mit dem Wunsch nach Ferne oder Horrorfilme mit dem Wunsch nach Nervenkitzel.

Aber ist es das Phänomen wirklich so einfach zu erklären? Schließlich hat das Kochen als Thema zahlreiche Genres unterwandert, wie anfangs gezeigt: Christian Rach testet Restaurants in Realityshows, baut eigene Kochschulen auf. Sender casten junge Hobbyköche und lassen sie gegeneinander antreten. Horst Lichter und Sarah Wiener begeben sich auf kulinarische Abenteuerreisen und präsentieren Kochen als Kultur. Im «perfekten Dinner» schauen wir in die Wohnungen fremder Menschen und beobachten, wie sie mit anderen fremden Menschen zusammen speisen. Und in Wissens-Entertainmentsendungen wie «Galileo» oder «Abenteuer Leben» wird hinter die Kulissen der Lebensmittelherstellung geblickt und das Kochen bis zum Extrem getestet: mit XXL-Schnitzeln bei Jumbo Schreiner oder Rezept-Experimenten bei Dirk Hoffmann wie der Blutwurst-Lasagne und dem Popcorn-Cola-Kuchen.

Kochen ist so vielleicht nicht nur eine Ersatzbefriedigung für das Kochen selbst. Sondern auch für zahlreiche andere Sehnsüchte, die in unserer schnelllebigen rationalisierten Alltagswelt immer mehr zurückgedrängt werden: Kochen ist unterhaltsame Gemeinschaft, das Zusammensein mit Freunden und Familie. Kochen bedeutet eine Reise in ferne kulinarische Gefilde – die Italien-Sehnsucht vieler Deutscher passt zum Erfolg der italienischen Küche hierzulande. Kochen bedeutet aber auch den Genuss der eigenen Heimat – der Erfolg solcher Phänomene wie «Landlust» oder der Trend zu regionalen Lebensmitteln bestätigen dies. Viele Kochsendungen zeigen außerdem, dass man mit wenigen Mitteln auf günstige Weise viel erreichen kann – Genuss und kulinarische Gaumenfreuden als Symbole gesellschaftlicher Abgrenzung werden aufgeweicht. Stars wie Tim Mälzer, Jamie Oliver und Steffen Henssler vermitteln aber auch Spaß und Lässigkeit – Eigenschaften, die im durchstrukturierten Alltag ebenfalls oft zu kurz kommen.

Und schließlich porträtieren die Köche den klassischen Aufstiegstraum vom Tellerwäscher zum Millionär: Wer Erfolg hat und hart arbeitet, kann es schaffen – wie Horst Lichter, der als Bergmann schuftete und im Alter von 28 Jahren einen Herzinfarkt überlebte. Oder Christian Rach, der die Uni schmiss, als Kellner im Gastronomiebetrieb Fuß fasste und heute in seinen Shows als erfolgreicher Manager und Sanierer auftritt. Viele TV-Köche dienen so als klassische Vorbilder – wie vor Jahrzehnten die Hausfrau in der Fernsehwerbung und die trockenen TV-Köche. Mit einem kleinen, großen Unterschied: Die damaligen Gastronomen war nur Mittel zum Zweck des eigentlichen Themas: des Kochens. Heute ist das Kochen selbst nur Mittel zum Zweck der genannten Ersatzbefriedigungen – und die medialen Kochstars sind ihre personifizierten Repräsentanten.
23.05.2013 11:43 Uhr  •  Jan Schlüter Kurz-URL: qmde.de/63950