Die Kino-Kritiker: «Gnade»

Eine deutsche Auswandererfamilie erlebt in Norwegen ihr persönliches Familiendrama.

Was genau bedeutet eigentlich der Begriff „Gnade“? Laut einer großen Internet-Enzyklopädie versteht man unter Gnade «eine wohlwollende, freiwillige Zuwendung». Die christliche Theologie geht sogar noch einen Schritt weiter und spricht von Erlösung. Mit seinem elften Langfilm nimmt sich der hamburgische Regisseur Matthias Glasner eben jenem Wort an und liefert eigene Denkanstöße, die einigen Interpretationsfreiraum lassen. Denn Gnade kann vieles bedeuten und jeder wird eine andere auf sich zutreffende Definition dafür finden. Die von Glasner erscheint nicht zuletzt aufgrund der im norwegischen Hammerfest spielenden Handlung kalt und unbarmherzig.

Polarnacht am Rande des Eismeers – zwei Monate lang übersteigt die Sonne nicht den Horizont. Inmitten von Schnee, Eis und Dämmerung startet eine deutsche Auswandererfamilie hoffnungsvoll den Neuanfang: Niels (Jürgen Vogel), Maria (Birgit Minichmayr) und Sohn Markus (Henry Stange). Schon nach kurzer Zeit spüren Niels und Maria, dass auch das neue Umfeld die erkaltetet Beziehung nicht retten kann: Niels stürzt sich in seine Arbeit als Ingenieur und beginnt eine Affäre. Maria schiebt Überstunden im Hospiz und Markus muss an der Schule seinen Platz finden.

Aber dann passiert in eisiger Nacht ein schrecklicher Unfall, der alles in Frage stellt. Die anfängliche Erstarrung weicht und wie durch ein Wunder wird dieses Unglück für die kleine Familie zum Wendepunkt: Das Geheimnis, das Maria und Niels fortan teilen, zwingt sie zur Auseinandersetzung – und führt sie auf einen Weg zu Erlösung und Gnade.

Nein, mit der pseudodokumentarischen Serie auf einem Kölner Fernsehsender hat Glasners Unterfangen überhaupt nichts gemeinsam. Auch wenn der Kern der Geschichte eine deutsche Auswandererfamilie darstellt: mehr Gemeinsamkeiten lassen sich wahrlich nicht ausmachen. Hier wird weder eine funktionsuntüchtige Dönerbude in den USA noch ein Hotel in der Karibik eröffnet. «Gnade» ist ein lupenreines Familiendrama mit einer schnörkellosen und geradlinigen Inszenierung.

Die wundervoll fotografierten Landschaften rund um den Ort Hammerfest in Norwegen sind schlichtweg atemberaubend. Schnee, soweit das Auge reicht und mitten drin die kleinen roten Häuschen mit ihren orangefarbenen Lampen. In dieser Idylle wirkt der Arbeitsplatz von Niels wie eine außerirdische Lebensform: die vielen Lichter der Fabrik lassen sie wie ein fehlgelandetes UFO im Nirgendwo aussehen. Die kalte und finstere Grundstimmung ermöglicht Drehbuchautor Kim Fupz Aakeson ein perfektes Bett für eine unterkühlte und in jeder Hinsicht tragische Familienentwicklung.

Aakeson, der beim letztjährigen Fantasy Filmfest mit dem von ihm geschrieben «Perfect Sense» für geteilte Lager sorgte, kreiert glaubhafte und in sich gekehrte Figuren, die sich alle zu sehr um sich kümmern und die eigene Familie hinten anstellen. Niels, der sich strikt weigert, weiter Norwegisch zu lernen und stattdessen auf sein schlechtes Englisch setzt, hat neben seiner Liaison nur noch das Eisfischen im Kopf. Seine Frau Maria ist mit ihren Arbeitszeiten im Krankenhaus nicht wirklich glücklich und wird zunehmend depressiver, was sich auch auf die Stimmung in der gesamten Familie auswirkt. Und auch Sohn Markus hat in der neuen Schule so seine Probleme. Mit seinen Klassenkameraden wird er nicht wirklich warm und so versteckt sich der Junge bald hinter seine Handykamera, mit der er fortan seinen eigenen (Lebens-)Film dreht. Die Kommunikation der Familienmitglieder liegt, thematisch unglaublich passend, auf Eis und niemand wagt den ersten Schritt, dieses zu brechen.

Dieses Gefühl der Abgeschiedenheit und Tristesse inmitten purer Dunkelheit schlägt auch beim Zuschauer aufs Gemüt. Zum Wohlfühlen eignet sich Glasners Werk nicht im Geringsten. Vielmehr regt es die eigenen Gedanken an und stellt dem Betrachter die Frage, wie er Gnade für sich selbst definiert. Wie die "wohlwollende, freiwillige Zuwendung" hier veranschaulicht wird, mag nicht für jeden ein zufriedenstellendes Ergebnis sein. Aber es ist eines, welches beim Verlassen des Saals erst einmal im Kopf bleibt und zu Diskussionen anregen könnte.

«Gnade» ist ein atmosphärisch ungemein dichtes Werk. Durch seine Unaufgeregtheit ist es zudem sehr intensiv und elektrisierend geraten. Ein stetes Unbehagen zeigt sich in den Figuren und überträgt sich von Beginn an auf den Zuschauer. Dass ausgerechnet das jüngste Familienmitglied die Courage hat, von seinem bisherigen Stil abzuweichen, um ein besseres Klima zu schaffen, ist ein konsequent ausgeführter Schritt und für die Beteiligten ein Wachrüttler. Dennoch müssen Kinder sowie Erwachsene einsehen, dass eine bloße Entschuldigung nicht unbedingt ein versöhnliches Ende als Resultat hat.

Matthias Glasner beeindruckt bei der Adaption von Kim Fupz Aakesons Drehbuch mit unterkühlten und stimmungsgewaltigen Bildern. «Gnade» ist ein ergreifendes Familiendrama mit tollen Darstellern und einer interessanten Thematik. Gerade in der kälteren Jahreszeit erlebt man den deutschen Film als noch bedrückender und einnehmender. Zum Aufwärmen eignet sich ein Kinobesuch demnach nicht, denn hier ist nicht nur die wunderschöne norwegische Landschaft eiskalt.

«Gnade» startet am 18. Oktober in den deutschen Kinos.
16.10.2012 15:15 Uhr  •  Janosch Leuffen Kurz-URL: qmde.de/59788