Popcorn und Rollenwechsel: Die Stimme macht den Charakter

Im Trailer zu «Pirates of the Caribbean – Fremde Gezeiten» hat Captain Jack Sparrow urplötzlich eine neue Stimme. Unser Filmkolumnist kommentiert den angedrohten Sprecherwechsel in Mitten der verfluchten Karibik.

Vergangene Woche ging der heiß ersehnte Trailer zu «Pirates of the Caribbean – Fremde Gezeiten» online. Kurz darauf entflammte das deutsche Internet, da Jack Sparrow nicht wie aus den Filmen gewohnt von Marcus Off, sondern von Johnny Depps Stammsprecher David Nathan gesprochen wurde. Weitere Meldungen besagten, dass diese Umbesetzung auch für den endgültigen Film gelten soll. Viele gingen auf die Barrikaden, so auch ich. Aber eine, sich in solchen Situationen stets verlässliche, laute Minderheit wollte uns Protestlern selbst die Schuld in die Schuhe schieben: Tja, was seid ihr auch so blöd und schaut heutzutage noch Synchros? Eine andere, noch kleinere Minderheit stichelte sofort: Endlich bekommt Nathan seine Rolle zurück, wer seid ihr überhaupt, den Nestbesetzer Off hören zu wollen?

Fein. Ihr wollt Krieg? Dann lasst mich einmal ausholen…

Versetzen wir uns kurz in den allmorgendlichen Weg zur Schule, Uni, Arbeit oder sonst wohin: Im Radio verspricht uns eine charakteristische Männerstimme „20% auf alles, außer Tiernahrung.“ Vor unserem geistigen Auge steht er da, im dreckigen T-Shirt und mit Schweiß auf der kernigen Glatze: Bruce Willis. Wir wissen zwar, dass er nicht der Sprecher des Baumarkt-Spots ist, und trotzdem gehört ihm die Stimme dieser Reklame. Die Stimmbänder, mit denen Deutschland Bruce Willis verbindet, sind die von Manfred Lehmann. Er lieh Bruce Willis erstmals seine Stimme, als dieser 1988 in «Stirb langsam» zum Action-Superstar mutierte. Und Lehmann erhielt sie daraufhin nie mehr zurück. Er spricht zwar auch Gérard Depardieu oder Kurt Russel, Willis dagegen klingt manchmal wie Arnold Schwarzenegger (man höre «Stirb langsam: Jetzt erst recht»), aber das rüttelt nicht an der kollektiven Rezeption Lehmanns.

Strikte Gegner der deutschen Synchronisationstradition argumentieren sicher, dass solche festen Symbiosen zwischen Sprecher und Schauspieler allein aus Gewohnheit entstehen. Ich sehe das nicht so und traue dem Synchrongucker selbst ohne Kenntnisse des O-Tons genügend Gespür zu, eine passende von einer unpassenden, eine technisch gelungene von einer ungelungenen Synchronarbeit zu unterscheiden. Dass solche Ehen zwischen dem Sprechorgan einer Person und dem Gesicht einer anderen zustande kommen, ist demnach auch der großen Expertise zu verdanken, mit denen sich hierzulande der Synchronisation gewidmet wird. Dass Hollywood uns regelmäßig wissen lässt, wie gut bei uns synchronisiert wird, ist tatsächlich mehr als nur schales Promo-Gewäsch. Das weiß auch jeder, der mal aus Jux die eine oder andere osteuropäische Sprachfassung eines seiner Lieblingsfilme antestete.

Wie fähig Synchronsprecher sind, bewies dieses Jahr beispielsweise auch Stallones Testosteron-Spektakel «The Expendables»: Thomas Danneberg sprach im Aufeinandertreffen der Actiongrößen zwei seiner Stammschauspieler, den Terminator Arnold Schwarzenegger einerseits und Sylvester Stallone andererseits. In einer äußerst amüsanten Szene hielt das Action-Macho-Triumvirat Stallone, Willis und Schwarzenegger eine mit Seitenhieben gespickte Verhandlung ab. In einigen Momenten war die Kamera auf Willis gerichtet, während Stallone und Schwarzenegger aus dem Off weitersprachen. Und dennoch war der deutsche Zuschauer nie verwirrt, stets war klar, wer gerade redet. Drei Schauspieler, zwei Synchronsprecher, drei Stimmen.

Während Dannebergs Haupt-Darsteller ähnliche Typen darstellen, decken andere Sprecher eine größere Bandbreite ab. Das männliche Sexsymbol Brad Pitt und der kugelige Komiker Jack Black werden beide von Tobias Meister gesprochen. Unterschiedlicher geht’s kaum noch, und dass Meister tatsächlich beide Schauspieler sprechen kann, ohne dass der Kinogänger dauernd die falsche Person vor dem geistigen Auge hat, spricht für eine große Synchronleistung.

Bei all der Fülle an Leinwandfiguren mehrerer Schauspieler, die geschäftige Synchronsprecher im Lauf ihrer Karriere einsprechen, sollte es nicht verwundern, dass ihnen manche Herausforderungen mehr gelingen als andere. So gibt Simon Jäger einen annehmbaren Matt Damon (unter anderem in «Das Bourne Ultimatum»), Heath Ledgers Joker in «The Dark Knight» hingegen hat er kongenial übertragen, es war eine der schillerndsten Stunden der vergangenen Synchronjahre. Dass die Leistung professioneller Sprecher fluktuiert, kann unterschiedliche Gründe haben. Mal gibt die Rolle bereits im Original nicht viel her, andere sind vielleicht schwer zu synchronisieren, eventuell gab der Synchronregisseur schwache Anweisungen. Und in anderen Fällen … passt der Sprecher einfach nicht. Durch Synchronisation hat man in deutschen Fassungen gewissermaßen einen viel kleineren Pool an Darstellern für die gleiche Menge an Rollen wie in Hollywood. Dass es meistens passt, ist schon eine beeindruckende Leistung, wenn man sich das erst einmal vor Augen führt. Es muss gezwungenermaßen auch mal zu Fällen kommen, in denen es schlichtweg nicht aufgeht und ein Stammsprecher nicht zu einer Rolle „seiner” Schauspieler passt, vielleicht auch ganz einfach deshalb, weil sich das vom Sprecher geliehene Timbre nicht dem gebotenen Schauspiel fügen kann. Denn Synchronisation bleibt letztlich doch die Leihgabe fremder Stimmen. Manchmal passen sie wie ein maßgeschneiderter Anzug, etwa bei Willis und Lehmann, manchmal wie ein guter Handschuh, etwa bei Brad Pitt und Tobias Meister, und manchmal will der gewohnte Handschuh einfach nicht so gut zur neuen Figur passen, wie es bei früheren Rollen der Fall war.

Auftritt Captain Jack Sparrow: Als die Synchronarbeiten zu «Fluch der Karibik» begannen, holte man für diese Figur David Nathan ins Studio, Johnny Depps und Christian Bales immens talentierten Stammsprecher. Die Legenden sind sich uneinig, ob Nathan den Großteil seiner Zeilen oder den kompletten Film einsprach, jedenfalls kam dem Supervisor sehr spät der Gedanke, dass Nathan es irgendwie nicht richtig gemacht habe und bitte alles wiederholen soll. Nathan quittierte, bei einer solchen Anweisung gar nicht mal zu unrecht, und man brauchte dringend einen anderen Sprecher für Jack Sparrow. Also holte man Marcus Off ins Boot, damals sicherlich noch nicht ahnend, welch Glückstreffer dem Synchronteam damit gelang. Off klingt im lallenden Piratensprech Nathan ähnlich genug, um nicht vollkommen befremdlich auf Depp zu wirken. Gleichzeitig bringt er viel neues in die Rolle ein. David Nathans Jack Sparrow war in den Trailern zu «Fluch der Karibik 1 & 2» und erst kürzlich im Trailer zu «Pirates of the Caribbean – Fremde Gezeiten» zu hören, und es war für sich betrachtet eine vollkommen normale Synchronleistung. Weder ein glorreicher Simon Jäger als Joker, noch ein Totalaussetzer wie Matze Knop als Adam Sandler. Nichts auffälliges.

Off jedoch machte den deutschen Jack Sparrow zu einer dieser Synchro-Sternstunden. Während Nathan halt wie Johnny Depps Synchronsprecher in der Rolle des Jack Sparrow klingt, ist Marcus Off schlichtweg Captain Jack Sparrow. Er bringt nicht nur das Versoffene besser rüber, allein schon stimmlich passt er besser auf das Erscheinungsbild dieser ikonischen Leinwandfigur. Er hat eine höhere Stimme als Nathan, wodurch das Angetrunkene bei ihm weniger an den prügelnden Säufer aus einer dunklen Eckkneipe erinnert, sondern mehr an einen schlacksigen Typen, der, wenn er einen über den Durst getrunken hat, richtig komisch sein kann. Man muss sich Sparrow nur anschauen, wie er ohne Hut und Mantel bei einem Fechtduell mit den Armen in der Luft wabernd einem Schluck Wasser gleicht, und letztlich doch (mehr oder weniger) ungeschoren davonkommt. Das sieht so aus, wie Off in dieser Rolle klingt: Ein Teil Versagerfassade, zwei Teile Trantüte, drei Teile verwegener Freibeuter und auch drei Teile verschmitztes Bübchen im besten Alter. Einmal geschüttelt, nicht gerührt, fertig ist der unberechenbarste Pirat der Karibik.
Kurzum: Off trifft von der Stimmfarbe und seinen Changierungen her genau Jack Sparrows Erscheinungsbild. Die verplante Mimik, die verworrene Gestik, das alles reflektiert auch Offs Stimmbild auf einmalige Weise.

Zum Vergleich höre man sich nur den neuen Trailer an: Statt der feuchtfröhlich angeheiterten Stimme eines schnell unterschätzten Piratenkapitäns dröhnt nun das versoffene Organ eines alten Seebären. Das ist keine vollkommen falsche Interpretation, aber es fehlt das fabelhaft-augenzwinkernde, diese schillernde Mystifizierung, die Offs Sparrow hat und dadurch genau das trifft, was Johnny Depp in seinem Piratenkostüm spielt, also das, was Jack Sparrow zu einer der unvergesslichsten Figuren des Abenteuerkinos macht. Nathan interpretiert den Schauspieler, Off die Figur. Und so sehr ich normalerweise für Schauspielerkontinuität bei Synchrobesetzungen bin, gerade bei solchen Ausnahmerollen kann es halt passieren, dass die übliche Besetzung weniger aufgeht, als eine Alternative. Mit Off hat man drei Filme lang eine solche glorreiche Alternative durchgezogen, mit entsprechender Wirkung auf den deutschen Kinogänger. Off ging mit Sparrow im kollektiven Bewusstsein die gleiche Symbiose ein, wie Manfred Lehmann mit Bruce Willis. Das erkennt man daran, wie viele wütende Reaktionen in Foren oder den YouTube-Kommentaren über den Sprecherwechsel im Trailer zu «Pirates of the Caribbean – Fremde Gezeiten» zu lesen sind. Oder wenn man in einem Film sitzt und eine Rolle Offs gerade ein wenig prahlerischer oder betrunkener ihre Zeilen vom Stapel lässt, und zwei Reihen hinter einem plötzlich Getuschel ausbricht. „He, das ist doch Jack Sparrow, oder?“

Wieso David Nathan wieder als Jack Sparrow zu hören ist und der Verleih ihn einigen Berichten zu Folge auch im fertigen Film hören möchte, ist strittig. Von der Verleihseite aus werden geschäftliche Differenzen mit Off genannt, dessen Agentur jedoch beteuert, es habe bislang nicht einmal Verhandlungen zwecks «Pirates of the Caribbean – Fremde Gezeiten» gegeben. Wie sollen da also finanzielle Streitigkeiten entstehen? Und seit wann geben Studios eigentlich zu, dass eine frühere künstlerische Entscheidung aufgrund finanzieller Begierden revidiert werden muss? Denn man hätte Nathan bei Teil eins wohl kaum ziehen lassen, wäre sein Sparrow in Disneys Ohren perfekt gewesen. Nun aber, nach den Streitigkeiten mit Off, holt man ihn zurück. Was sagt das denn nun über Disney aus?

Eigentlich sind mir die Hintergründe aber egal. Wichtiger ist, dass Marcus Off den einmaligen Jack Sparrow wiedererlangt. Vielleicht geschieht bis Mai 2011 ein neues Synchronwunder, und beide Parteien, Verleih und Off, können sich einigen. Es wäre mein Weihnachtswunsch für dieses Jahr. Also, bitte, macht einen armen Filmkolumnisten glücklich…

Wer sich für Marcus Off auf Jack Sparrow einsetzen möchte, findet hier eine Onlinepetition zum Thema.
20.12.2010 00:00 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/46557