Serienlexikon: «Carnivàle»

Nackte Ziffern sind für den Kabelsender Home Box Office nicht alles. Dennoch musste sich die mehrfach ausgezeichnete Serie «Carnivàle» bereits nach zwei Staffeln wieder von den amerikanischen Zuschauern verabschieden.

5,3 Millionen. Sonntag. Kabel. Ein treffliches Ende für eine beispielhafte Woche. Vor sieben Jahren, am Abend des 14. Septembers 2003, verdrängte der Serienaufakt von «Carnivàle» die erste Episode des Kultformats «Six Feet Under» von ihrem Thron. Ein Unterschied von 300.000 interessierten Abonnenten setzte so die neue Richtlinie für künftige Pilotfolgen. Zu verdanken hatte man dies grundsätzlich zwei Dingen. Ganz im Gegensatz zum regulären Standardintervall von sieben Tagen, das zwischen dem Start des Werbefeldzuges und dem der entsprechenden Produktion liegt, begann Bezahlsender Home Box Office bereits Mitte August mit der Bedarfslenkung: Umfassende Printreklame sowie eindrucksvolle Fernsehspots im Vorfeld ebneten den Weg zum 21:00 Uhr Slot – kein hart umkämpftes Gebiet am amerikanischen Sonntag. Zum anderen bildete «Sex and the City» das Lead-in. Oft ist davon die Rede, es habe sich hierbei um das Serienfinale gehandelt. Ein Irrglaube. Mit 'One' verabschiedeten sich das Viergespann lediglich in den Hiatus, bis man im Januar zum Endspurt ansetzen würde. 7,7 Millionen Menschen waren mit von der Partie. Ein Wert, den das - inzwischen durch Kinofilme wieder aufgenommene - Ende mit einem Publikum von 10,6 Millionen Anhängern gekonnt in den Schatten stellte.

Abstand von der anzüglichen Matiere und zurück zur gelungensten Mysteryserie seit David Lynchs «Twin Peaks». 5,3 Millionen für «Carnivàle» und seine neue Heimat HBO. Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft? Keineswegs. Bereits 'After the Ball Is Over', die zweite Episode der ersten Staffel, überzeugte nur noch 3,49 Millionen Zuschauer und auch im Folgenden zeigte der Trend nach unten. Die Verlängerung für die nächste Runde ist einer gewissen Stabilität und den zahlreichen positiven Kritiken zuzuschreiben. Season zwei fand sich 2005 auf dem angestammten Sendeplatz ein und konnte zur Premiere 1,81 Millionen Kunden zum Einschalten bewegen. Es ist kein Geheimnis, dass im Kabelfernsehen andere Gewalten als im Rahmen der Networks herrschen, die augenblicklich auf schwache Einschaltquoten reagieren müssen und Sendungen beispielsweise nach zwei Wochen aus dem Programm nehmen. Doch wiederum machten «Carnivàle» zwei Tatsachen einen Strich durch die Rechnung.

Einerseits war früher nunmal alles besser. «The Sopranos», «The Wire» und «Deadwood», das nur ein Jahr zuvor die alte Rekordmarke mit seinem Debut (5,8 Millionen) überflügelte, machten ihrem investierenden Domizil alle Ehre und waren die stetigen Lieblinge der Kritiker - was die Zukunft quotenschwacher Formate selbstverständlich verdunkelte. Gegenwärtig hat HBO stark mit seinem Ruf zu kämpfen und bemüht sich an ehemalige Erfolge anzuknüpfen, was mit angekündigten Serien wie «Games of Thrones» und «Boardwalk Empire» auch durchaus funktionieren könnte. Bei deren Kostspieligkeit wäre alles andere auch verheerend.

Apropos: Was «Carnivàle» schließlich zu Fall brachte, waren die eminenten Unkosten. Etwa vier Millionen Dollar flossen in die Produktion einer einzelnen Episode, was die bisherige Grenze immerhin verzweifachte. Daniel Knauf, Schöpfer von «Carnivàle», fürchtete um die Liquidität seines Geldhahns, die seinen ursprünglichen Plan von sechs Staffeln in die Tat umsetzen sollte. Ihm und seinem Team wurde angeboten, mit zwei Millionen Dollar pro Folge in die nächste Season zu ziehen, doch das sei schlicht nicht zu bewerkstelligen gewesen, verschlangen der Cast und das Setting doch derart hohe Summen. So wurde am 11. Mai 2005 das Ende der Serie offiziell verkündet. Ein rundes Ende wäre möglich gewesen, doch das grandiose Finale scheiterte an Zeit, Unsicherheit und nicht zuletzt Knaufs Traum selbst. Dazu später mehr. Zunächst ein Blick auf die Story und Mythologie der Serie.

"Vor dem Anfang ... nach dem großen Krieg zwischen Himmel und Hölle schuf Gott die Erde und wählte als Herrscher diesen cleveren Affen, den er Mensch nannte ... und in jeder Generation lebte eine Gestalt des Lichts und eine Kreatur der Dunkelheit." Mit diesen Sätzen beginnt 'Milfay', ihres Zeichens Pilotfolge von «Carnivàle». Wortführer ist Samson, der zwergwüchsige Co-Manager des umherziehenden Karnivals. Dessen Crew trifft in Oklahoma auf den jungen Ben Hawkins, der zu diesem Zeitpunkt seine verstorbene Mutter eigenhändig zu Grabe bettet. Im Folgenden schließt sich Ben, der unter erschreckenden Träumen und Visionen leidet, der Wagenkolonne an. Unter der Besatzung befindet sich die dritte, raue Führungskraft Clayton 'Jonesy' Jones (Tim DeKay, «White Collar»), ein ehemaliger Baseball-Spieler, dessen Karriere mit einem verkrüppelten Bein endete. Jonesy hat ein Auge auf Sofie (Clea DuVall, «Heroes») geworfen, die mithilfe von Tarotkarten in die Zukunft blicken zu vermag. Nebenbei muss sie Acht auf ihre katatone Mutter Appollonia (Diane Salinger) geben, die durch Gedanken mit ihr kommuniziert.

Desweiteren gibt es Lutz (Patrick Bauchau), einen blinden Zauberkünstler und Mentalisten, der in Lila (Debra Christoffersen), der Frau mit Bart, eine intrigante Spielgefährtin gefunden hat. Neben Echsenmenschen, Schlangenfrauen und siamesischen Zwillingen nimmt die Familie Dreyfuss, bestehend aus Oberhaupt Felix (Toby Huss), Gattin Rita Sue (Cynthia Ettinger) sowie den beiden Abkömmlingen Libby (Carla Gallo) und Dora Mae (Amanda Aday), eine große Rolle ein. Die drei Damen führen erotische Tänze auf, Felix fungiert als Stimmungsmacher. Leitung über den Karnival auf Rädern hat das Management. Dabei handelt es sich um eine Stimme hinter einem roten Vorhang, der sich in Samsons Wohnwagen befindet. Auch dieser hat die ominöse Person, die überaus an Neuzugang Ben interessiert ist, noch nie gesehen. Mit der Zeit und diversen tragischen Zwischenfällen beginnen die Angestellten an den Geschichten eines angeblichen Managements zu zweifeln. Zu bemerken ist, dass im Original mit Linda Hunt eine Frau dem Management ihre Stimme leiht. Die deutsche Synchronisation machte daraus einen Mann, was der Story aber nicht schadet.

Weshalb der/die/das große Unbekannte gegenüber Ben so aufmerksam ist, wird dem Zuschauer bereits am Ende von 'Milfay' klar: Ein Mädchen, etwa neun Jahre alt, hat seit ihrer Geburt gelähmte Beine. Ben legt seine Hände auf diese, schließt die Augen und lässt seiner verhassten Gabe freien Lauf. Dem die beiden umringenden Feld wird offensichtlich die Lebenskraft entzogen, es fällt in sich zusammen – das Mädchen hingegen rennt mit unsicheren Schritten nach Hause, während Ben zum abziehenden Karnival flüchtet. Doch er ist nicht der einzige mit besonderen Kräften, eine Hälfte der Episoden wird nämlich stets der bösen Seite zuteil: Bruder Justin Crowe ist methodistischer Priester, mit der Fähigkeit Menschen seinen Willen aufzuzwingen und ihre schlimmsten Vorstellungen wahr werden zu lassen. Gemeinsam mit seiner Schwester Iris (Amy Madigan) lebt er in Mintern, California und strebt mithilfe der ansässigen Gemeinde nach höheren Zielen. Einem neuen Kanaan, einer trügerischen Hoffnung. Der Karnival reist von Ort zu Ort und die dunkle Vergangenheit, in die sowohl Ben, als auch Justin in ihren Rollen als Avatere verstrickt sind, wird mehr und mehr aufgedeckt. Bis die Reise der beiden schließlich miteinander kollidiert und sich Gut und Böse am Ende der zweiten Staffel gegenüberstehen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite über die beiden Hauptdarsteller, den Ursprung der Geschichte und ihren Erfinder Daniel Knauf sowie das zwiegespaltene Finale.

Nackte Ziffern sind für den Kabelsender Home Box Office nicht alles. Dennoch musste sich die mehrfach ausgezeichnete Serie «Carnivàle» bereits nach zwei Staffeln wieder von den amerikanischen Zuschauern verabschieden.

Verkörpert wurde Ben Hawkins von Nick Stahl. Mit 13 Jahren spielte er an der Seite von Mel Gibson in «Der Mann ohne Gesicht» und zog so die Aufmerksamkeit der Branche auf sich. Er setzte seine Karriere als aufstrebender Nachwuchsschauspieler fort und war in mal mehr, mal minder erfolgreichen Filmen zu sehen. Eine seiner bekanntesten Rollen ist die des John Conner in «Terminator 3: Rebellion der Maschinen». Obwohl Nummer drei als schlechtester Teil der Reihe gilt, wurde Stahl angeboten, Connor auch im vierten Part zu mimen. Doch der heute 30-Jährige war der Ansicht, es müsse sich ob des Sprungs in die Zukunft um einen älteren Darsteller handeln. Der Zuschlag erhielt letztlich Christian Bale, von dem ihn nur sechs Jahre trennen. Eine zweite populäre Figur Stahls ist die des Yellow Bastards in «Sin City». Justin Crowe, sein Gegenüber in «Carnivàle» wurde von Clancy Brown porträtiert, welcher eine weitaus umfangreichere Vita vorzuweisen hat. Nicht nur als Darsteller in Filmen wie «Highlander» oder «Die Verurteilten», sondern auch als Voice-Actor machte sich Brown einen Namen. Inzwischen steht er meist für die animierten Formate der Comicmarke DC hinter dem Mikrophon, doch auch Mr. Krabs aus «Spongebob Schwammkopf» wird von ihm synchronisiert. Fans der Serie «Lost» kennen Brown als Kelvin Inman, der über Jahre hinweg gemeinsam mit Desmond die Schwanstation bewohnte.

Bevor er ins Fernsehfach wechselte, war Serienerfinder Daniel Knauf Makler für Krankenversicherungen. Gefallen hat das dem guten Mann wenig, weshalb er bereits zwischen 1990 und 1992 das Drehbuch zu «Carnivàle» schrieb – allerdings für die große Leinwand. Knauf hatte jeden Aspekt seiner Idee ausgearbeitet und konnte ihren Verlauf bis hin zur abschließenden Sequenz erläutern. Doch obgleich sein ungewöhnliches Skript 180 Seiten umfasste, war er unzufrieden mit der Arbeit. Langsam aber sicher entwickelte sich das Projekt gen Fernsehen. Knauf verfasste das Drehbuch einer Pilotepisode, doch auf Grund fehlender Kontakte in der Branche verlief sich die Vision ein weiteres Mal im Sande. Im Zuge des neuen Milleniums ergriff er den letzten Strohhalm und bot das Skript auf seiner Website an. Die Produzenten Howard Klein und Scott Winant waren angetan und machten im Folgenden HBO auf das Schriftstück aufmerksam. «Carnivàle» ward geboren. Als Showrunner wurde Ronald D. Moore («Star Trek») engagiert, der die Position jedoch nach einem Jahr an Knauf abtrat, um das Reboot zu «Battlestar Galactica» voran zu bringen.

Dass die vier Millionen Dollar pro Episode korrekt eingesetzt wurden, zeigt sich an den erhaltenen Auszeichnungen der Serie: In ihrem ersten Jahr war «Carnivàle» für sieben Emmy Awards nominiert und gewann davon insgesamt fünf, unter anderem für die herausragenden Kostüme, das Hairstyling, die Cinematography und Art Direction einer Single-Camera Serie. Zudem wurde das äußerst teuere und in seiner Produktion aufwändige Opening Theme mit einem Emmy gewürdigt. Die zweite Staffel war für acht der begehrten Trophäen nominiert, gewann aber keine davon. Hierzulande wurde die Serie vom Fox Channel ausgestrahlt, zu empfangen über Sky und Unitymedia. Für das Free-TV hat noch kein Sender Interesse bekundet.

Schuld daran ist nicht nur der weit zurückliegende Broadcasttermin in den Vereinigten Staaten und das einzigartige, kaum massenkompatible Storytelling, sondern auch das unzufriedenstellende Finale. Niemand findet Gefallen an unabsichtlich offenen Enden. Wobei genau das das Problem von «Carnivàle» ist. Hätte Home Box Office den Gehaltspoker nicht ganz so ernst genommen, das Produktionsteam mehr auf die deutlichen Zeichen geachtet und Knauf sich nicht so sehr auf seinen Plan von sechs Staffel versteift, hätte man die Serie mit Episode 24 definitiv zu einem runden Abschluss bringen können. Das Schicksal hatte Ben und Justin endlich zusammen geführt, alle Fäden konzentrierten sich auf diesen Punkt und waren soweit auch beendet. Die Vergangenheit um die Figuren Henry Scudder oder das Management waren nicht zu 100 Prozent aufgeklärt worden, allerdings nur insofern, da man ihren Anfangspunkt nicht kannte.

Doch die Intention, der Konflikt, das Thema konnte man durch die rasante zweite Staffel ohne Schwierigkeiten verstehen. Nun musste nur noch eine Seite gewinnen. Und eigentlich ist auch genau das geschehen. Doch anstatt die letzten Minuten für eine ausklinge Szene zu nutzen, machte man aus 'New Canaan' mehr Staffel-, als Serienfinale. Knauf ließ zwei neue Handlungsstränge entstehen, deren alleinige Existenz wiederum die vor Sekunden gefestigte Zukunft von Ben und Justin erneut zweifelhaft erscheinen lässt. «Carnivàle» hätte enden können, doch wie auch noch heute meint Knauf, es wäre die einzige Lösung gewesen, an seinem Konstrukt festzuhalten. Im Gegensatz zu anderen vorzeitig beendeten Serien wie «Gilmore Girls» oder «Veronica Mars» steht eine Filmfortsetzung zwar dank Fans seit Jahren im Raum, blieb von Verantwortlichen aber bislang unangetastet.
05.06.2010 10:00 Uhr  •  Marco Croner Kurz-URL: qmde.de/42400