Die Kritiker: «Der Schneegänger»

Die Leiche eines elfjährigen Jungen wird zwei Jahre nach seinem Verschwinden in einem Wald in Brandenburg entdeckt. Die junge Polizistin Sanela Beara macht sich Vorwürfe. Sie hat vor zwei Jahren die Vermisstenanzeige aufgenommen. Damals hatte sie ein merkwürdiges Gefühl. Warum ist sie dem nur nicht nachgegangen?

Stab

REGIE: Josef Rusnak
DREHBUCH: Elisabeth Herrmann und Josef Rusnak nach Elisabeths Herrmanns geichnamigen Roman (2015)
KAMERA: Cristian Pirjol
SCHNITT: Dirk Grau
MUSIK: Mario Grogorov
KOSTÜME: Nana Kolbinger
PRODUZENTEN: Jutta Lieck-Klenke, Dietrich Kluge
DARSTELLER: Nadja Bobyleva (Sanela Beara), Max Riemelt (Lutz Gehring), Stipe Erceg (Darko Tudor), Bernhard Schir (Günter Reinartz), Edita Malovčić (Lida Reinartz), Emil Belton (Segfried Reinartz), Lui Eckardt (Tristan Reinartz)
Mit «Der Schneegänger» ist dem ZDF kein großer Wurf gelungen. So richtig packend ist die Story nicht, trotz der dramatischen Ausgangslage. Der kleine Junge, der offenbar eines gewaltsamen Todes gestorben ist, heißt Darijo und wurde als Sohn kroatischer Einwanderer geboren. Seine Mutter Lida arbeitete zum Zeitpunkt seines Verschwindens als Hausangestellte im Anwesen des Industriellen Günter Reinartz, sein Vater Darko – der titelgebende Schneegänger – ist ein Wildhüter, dessen besonderes Augenmerk einem Wolfsrudel gilt, das sich in Brandenburg angesiedelt hat. Es ist korrekt, einmal in der Vergangenheit und einmal in der Gegenwart zu schreiben. Während Darko seit Jahren seine Arbeit ausübt und sich, seit dem Verschwinden seines Sohnes, ganz in die Wälder zurückgezogen hat, um mit so wenig Menschen wie möglich in Kontakt zu kommen, hat Lida inzwischen ihren ehemaligen Chef geheiratet.

Mit der Leitung der Ermittlungen wird Kriminalhauptkommissar Lutz Gehring betraut, der die Streifenpolizistin Sanela Beara zu dem Fall befragt. Sanela war vor zwei Jahren die erste Polizistin am Ort des Verschwindens - dem Anwesen des Industriellen Reinartz. Und sie hatte seinerzeit ein seltsames Gefühl. Damals erschien ihr die Situation – irreal. Dieses Gefühl hatte nichts mit konkreten Hinweisen oder Widersprüchlichkeiten in den Aussagen der Anwesenden zu tun. Es kam aus ihrem Bauch heraus: Da war etwas, das ihr nicht gefiel. Aber was? Sie verdrängte dieses Gefühl. Vor allem, da man nach Darijos Verschwinden davon ausging, dass er mit einem der beiden reichen Unternehmersöhne verwechselt und entführt worden sei. Abgesehen davon war und ist sie nur eine Streifenpolizistin - sie hatte demnach eh nichts weiter mit diesem Fall zu tun.

Sanela bittet Gehring, ihm bei den Ermittlungen helfen zu dürfen. Sie ist selbst kroatischer Herkunft und innerhalb der kroatischen Gemeinde über ihren Vater, den Betreiber einer Sporthalle, gut vernetzt, vielleicht kann sie Gehring auf diese Weise nützlich sein. Gehring ist davon zwar nicht begeistert, stimmt dem aber zu. Und da Sanela tatsächlich recht schnell einen Zeugen aufspürt, der vor zwei Jahren gesehen hat, wie Darko etwas im Wald verscharrt hat, präsentiert sie ihm sogar einen Verdächtigen. Allerdings ist der Fall etwas komplizierter und Sanela wird durch diesen Fall mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert. Ihre Mutter ist während des Kroatienkrieges Anfang der 90er ermordet worden. Sanela war damals noch ein kleines Kind, die Erinnerungen an den Tag des Todes der Mutter hat sie verdrängt. Jetzt jedoch werden sie wieder an die Oberfläche gespült und sie glaubt, dass Darko etwas mit diesem Tod zu tun haben könnte.

Das klingt ja alles nicht uninteressant, aber am Ende wirkt so ziemlich alles an «Der Schneegänger» konstruiert. Da ist Sanelas Trauma, das in den Rückschaubildern einerseits zwar greifbar wird – durch das Auftreten von Soldaten, die Frauen bedrohen, durch ihre Mutter, die sich den Soldaten entgegenstellt und damit auch ihre Tochter schützt -, aber wie sich aus diesen Bildern eine Verbindung zu Drako aufbauen soll, bleibt ein Geheimnis der Regie. Es gibt keinen Moment, der solch eine Verbindung greifbar machen würde. Abgesehen davon, dass Darko Kroate ist. Warum sollte er als Soldat Sanelas Mutter, einer Kroatin, etwas angetan haben?

Dann ist da die Einführung von Sanela. Die findet in der Turnhalle ihres Vaters statt. Sanela steht in einem Boxring und liefert sich mit einer Partnerin einen ziemlich derben Kickbox-Kampf, in dem sich die beiden Frauen recht persönlich angehen und der erst beendet wird, als ihr Vater dazwischengeht. Warum der Kampf derart aus dem Ruder läuft, spielt tatsächlich keine Rolle, da er an sich nur den Zweck verfolgt, Sanela als durchaus schlagkräftige Person in die Geschichte einzuführen. Was nicht zu kritisieren ist. Schnitt: Eine halbe Stunde Spielzeit später. Nachdem Darijos Mutter die Nachricht vom Tod ihres Sohnes überbracht worden ist, erleidet diese einen Nervenzusammenbruch. Sie wird in eine private Klinik eingeliefert, in der sie Darko aufsucht. Hat der die Todesmeldung seines Sohnes zunächst ohne sichtbare Gefühlsregung aufgenommen, verliert er in der Klinik vollkommen die Fassung und macht seine Ex-Frau für den Tod des Kindes verantwortlich. Zwar nimmt er sie in den Arm, doch während er sie an sich drückt, presst er ihren Kopf derart an seine Schulter, bis sie keinen Atem mehr bekommt. In diesem Moment betritt Sanela die Szenerie. Die gleiche Polizistin, die zu Beginn des Spielfilmes als eine durchaus zuschlagende Frau in die Story eingeführt wird, stürzt sich jetzt nicht etwa auf Darko oder richtet ihre Waffe auf ihn. Nein, sie schaut sich erst einmal unsicher um nach einem Hilfsmittel, mit dem sie Darko von seinem Tun abbringen kann. Was erst einmal nicht falsch ist. Sie findet solch ein Hilfsmittel in Form eines Stuhles, den sie ihm dann auch über den Rücken ziehen will. Wobei sie sich ihm aber so saft- und kraftlos nähert, dass Darko nur eine lasche Armbewegung braucht, um den Stuhl abzuwehren und den kickboxende Polizist mal eben gegen eine Wand zu schleudern, wo diese einen Moment benommen liegen bleibt. Auch bei der anschließenden Verfolgung Darkos stellt sich Sanela etwas ungeschickt an, indem sie zwar ihre Waffe nun auf ihn richtet, dabei aber sichtbar in einer Art und Weise zittert, dass ihr manch ein Zitteraal für dieses Zittern Respekt zollen würde. Wo ist die taffe Polizistin der Einführung geblieben?

Auch die Beziehung von Gehring und Sanela bleibt behauptet. Mehrfach fällt sie ihm bei seinen Ermittlungen in den Rücken, ohne ihn an ihren Gedanken teilhaben zu lassen. Bis zu dem Punkt, an dem sie sich unter einen Vorwand ins Haus Reinartz einschleicht. Sicher, ihr fällt während eines Gesprächs mit Reinertz' Sohn, mit dem Darijo seinerzeit verwechselt worden sein soll, etwas auf, das sie Gehring mitteilt und was für die kommenden Ermittlungen nicht unwichtig sein wird. Aber diesem einen Moment stehen eben andere Momente gegenüber, die einmal mehr die Frage in den Raum stellt, warum deutsche TV-Ermittler eigentlich immer so verstockte Einzelgänger mit Kommunikationsallergie sein müssen? Warum reden die nie miteinander, wenn sie sich persönlich in einen Fall involviert fühlen?

Dass übrigens die Ähnlichkeit zwischen dem Reinertz-Sohn und Darijo in den Rückblicken eher übersichtlich ausfällt – sie haben vielleicht die gleiche Haarfarbe, Darijo ist aber deutlich kleiner und vom Typ her viel zarter, ist fast schon eine Petitesse im Rahmen einer zerfaserten Inszenierung, die weder Spannung aufkommen lässt noch mit seinen Figuren wirklich etwas anzufangen weiß. Die Reinartz-Kinder (es gibt zwei Söhne) etwa sind unsympathische Kröten, die aufgrund des Reichtums, in den sie geboren wurden, halt unsympathische Kröten sein müssen. Das will die Zuschauerschaft schließlich so sehen. Die da oben sind nun einmal allesamt verkommene Menschenverächter. Was nun nicht verwundert, denn ihr Vater hat ihre Mutter rausgeworfen, als diese Runzeln am Po bekam und sie stante pede gegen das weitaus jüngere, hübsche Dienstmädchen aus Kroatien ausgetauscht. Der ist also auch ein Drecksack, weil er halt reich ist. Das ist alles so voller Klischees - und so nervend, da es quasi nur diese handelnden Figuren gibt, die irgend etwas mit dem Tod des Jungen zu tun haben können. Dass dessen Vater ihn ermordet hat, ist im Grunde in dem Moment auszuschließen, in dem er in seiner Wut seine Ex aus dem Leben in den Tod befördern will. Ja, er versucht sie umzubringen. Das ist nicht nett. Aber immerhin hat er einen Grund: Er gibt ihr die Schuld am Tod seines Sohnes. Also ist er als potenzieller Kinder-Mörder raus. Dabei ist der von Stipe Erceg dargestellt Darko Tudor die eine Figur, die tatsächlich Tiefe erlangt. Dieser Mann ist am Ende. Er hat seinen Sohn verloren, er hat seine Frau verloren, er ist ein Verlorener. Nur leider kein echter Verdächtiger. Sicher, im Grunde soll er das auch gar nicht sein, aber als einsamer Rächer taugt er auch nicht – dafür hat er schlicht zu wenig Bildschirmzeit. Irgendwann verschwindet er, dann taucht er wieder auf...

Liegt es an der Geschichte, das dieser Film einfach nicht wirklich funktionieren will? Am Fehlen von wirklich packenden Momenten oder Figuren, die mehr darstellen als Klischees? Oder an der kraftlosen, fahrigen Inszenierung? Einer fahrigen Inszenierung, die um so mehr überrascht, schaut man auf den Namen des Regisseurs: Josef Rusnak. Der hat 1999 nicht nur den Scifi-Thriller «The Thirteenth Floor» inszeniert, er war auch Second-Unit-Director von Roland Emmerichs «Godzilla» und er hat in den USA einige B-Kracher wie «The Art of War 2» inszeniert, die vielleicht nicht gerade als Meisterwerke bezeichnet werden mögen, aber allesamt handwerklich nicht zu bemängelndes Home-Entertainment-Futter darstellen. Dass gerade er eine solch kraftlose Inszenierung abliefert, …

«Der Schneegänger» ist am Montag, den 22. Februar 2021, um 20.15 Uhr im ZDF zu sehen.
21.02.2021 12:17 Uhr  •  Christian Lukas Kurz-URL: qmde.de/124992