Die Kino-Kritiker: «Vergiftete Wahrheit»

Pure Profitgier, für die unser aller Leben aufs Spiel gesetzt wurde.

Das Kino ist nicht nur eine Stätte fiktiver Geschichten, sondern auch ein Ort, der uns mit unumstößlichen Wahrheiten konfrontiert. Wahrheiten, die oft lange zurückliegen, vertuscht oder runtergespielt wurden und in der Öffentlichkeit nicht selten kaum wahrgenommen wurden. Meist sind es die Mächtigen, die in solchen Filmen zwangsläufig an den Pranger gestellt werden, weil sie Skandale provozierten, die uns mit einem unglaublichen Unrechtsgefühl zurücklassen.

Und das Erstaunliche: Es sind fast ausnahmslose grandiose Filme, gut recherchiert und emotional aufwühlend. In den vergangenen Jahren begeisterten wir uns etwa über «Spotlight», in dem es um sexuellen Missbrauch in der Kirche ging, über «The Big Short», in dem die Machenschaften der Finanzbranche aufgedeckt wurden, oder über «Snowden», in dem erklärt wurde, wie sich der gleichnamige Whistleblower gezwungen sah, die Geheimdienstaffäre an Tageslicht zu bringen. Um einen Umweltskandal geht es jetzt in «Vergiftete Wahrheit», ein ebenso packendes Werk, dass uns wahrlich den Atem stocken lässt.

Der Beginn eines 15-jährigen Kampfes vor Gericht
Seit die Chemiewerke DuPont in Virginia giftige Abfälle entsorgt, gehen immer mehr Rinder in der Gegend elendig zugrunde. Viehzüchter Wilbur Tennant (Bill Camp) wendet sich an eine renommierte Anwaltskanzlei. Der Wirtschaftsjurist Robert Bilott (Mark Ruffalo) nimmt sich der Sache an und gerät dadurch in einen Konflikt. Einerseits vertritt seine Kanzlei große Chemie-Konzerne, andererseits deutet alles darauf hin, dass hier was faul läuft.

Zum Glück hat Bilott die Rückendeckung seines Chefs Tom Terp (Tim Robbins) und stellt weitere Nachforschungen an. Doch je mehr er dem Konzern DuPont auf den Zahn fühlt, desto größer wird der Widerstand. Inzwischen hat sich auch der Gesundheitszustand von Wilbur Tennant verschlechtert, ganz zu schweigen davon, dass ihm seine Existenz genommen wurde. Bilott lässt sich locker. Es beginnt ein 19-jähriger Rechtsstreit, der die bittere Tatsache ans Tageslicht bringt. DuPont hat für die Herstellung des synthetischen Stoffs PFOA, der unter anderem zur Antihaft-Beschichtung für Teflon-Bratpfannen dient, giftige Rückstände in die Umwelt gepumpt. Pure Profitgier mit dem Ergebnis, dass heute 99 Prozent aller Menschen PFOA in sich tragen.



Ein Gerichtsthriller, der unser Gerechtigkeitsempfinden anzapft
Das muss man erst mal schaffen in einer Zeit, in der die Sehgewohnheiten im Kino nach mehr und mehr tricktechnischem Spektakel verlangen, um dabei unkontrolliert das Popcorn in den Mund zu führen. «Vergiftete Wahrheit» indes ist ein Film, der uns spätestens nach 20 Minuten das Kauen vergessen lässt. Denn die Geschichte, die hier nacherzählt wird, beruht auf Wahrheiten Regisseur Todd Haynes, der schon mit «Dem Himmel so nah» oder «Carol» kontroverse Themen behandelte, muss sich noch nicht mal dramaturgischer ‚Tricks‘ bedienen, um vom Publikum die volle Aufmerksamkeit zu bekommen.

Immer tiefer gräbt der Protagonist Robert Bilott und was er zutage bringt, löst mehr und mehr Entsetzen aus und ein mulmiges Gefühl macht sich breit, dass man selbst mehr davon betroffen ist als anfangs gedacht. Aus den Zuschauern werden Betroffene, die emotionale Bindung zu den Opfern im Film verstärkt sich und der eigene Gerechtigkeitssinn wird ganz empfindlich angestoßen. Wie Haynes die Wahrheit mit erdrückender Sachlichkeit Stück für Stück aus dem Sack lässt, ist spannungsaufbauend brillant gelöst.



Wie aus einem Wirtschaftsanwalt ein Umweltaktivist wurde
Robert Bilott gibt es wirklich. Der heute 55-Jährige setzte sich erstmals 1998 mit dem Fall auseinander und stellte fest, dass das Trinkwasser nahe der Entsorgungsdeponie von DuPont in Parkersburg, West Virginia, tatsächlich mit der Substanz PFOA (Perfluoroctansäure) kontaminiert war. Nicht nur Tiere, sondern auch Menschen erkrankten und starben an Krebs. Erst 2017 wurde der DuPont-Konzern für schuldig gesprochen und zahlte 70.000 Geschädigten eine Gesamtsumme von knapp 672 Mio. Dollar. Doch das ist nur die Spitze des Eisbergs. Abgesehen davon, dass der Schadstoff PFOA weltweit in den Wasserfluss gelangte, existieren 600 ähnliche synthetische Substanzen, die nicht abbaubar sind. Und auch hier kämpft Robert Bilott an vorderster Front.

Im Film wird er von dem charismatischen Mark Ruffalo, der als Marvel-Comicheld Hulk in den «Avengers»-Abenteuern zum Weltstar wurde, aber immer wieder in Filmen mit größerer Bedeutung auftaucht. Bereits in dem Sportdrama «Foxcatcher» war er in der Rolle eines Trainers im Ringen schon einmal mit dem DuPont-Clan konfrontiert. In «Spotlight» spielte er einen Reporter, er den Missbrauchsskandal in der Katholischen Kirche aufdeckte. Für beide Rollen war er jeweils für den Oscar nominiert. Eine Auszeichnung, die dem engagierten Schauspieler hoffentlich bald doch zugesprochen wird.

Fazit: «Vergiftete Wahrheit» ist ein Film, der ohne große Showeffekte auskommt, aber dennoch so spannend inszeniert ist, dass man über zwei Stunden in seinen Kinosessel krallt.

«Vergiftete Wahrheit» ist seit Donnerstag, den 8. September 2020, in den Kinos zu sehen.
08.10.2020 14:37 Uhr  •  Markus Tschiedert Kurz-URL: qmde.de/121850