Die Kritiker: «Aus dem Nichts»

Der Film von Regisseur Fatih Akin mit Hauptdarstellerin Diane Kruger erlangte international großen Zuspruch, wurde von deutschen Kritikern aber oft verrissen: Vielleicht weil er für die oft zu banalen Lesarten des hiesigen Justizdramas untypisch ist. Was andere deutsche Filmemacher von ihm lernen können.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Diane Kruger als Katja Sekerci
Denis Moschitto als Danilo Fava
Johannes Krisch als Haberbeck
Ulrich Tukur als Jürgen Möller
Samia Chancrin als Birgit
Henning Peker als Hauptkommissar Reetz
Nuri Sekerci als Numan Acar

Hinter der Kamera:
Produktion: Bombero International GmbH & Co. KG, Corazón International GmbH & Co. KG und Macassar Productions
Drehbuch: Fatik Akin (auch Regie) und Hark Bohm
Kamera: Rainer Klausmann
Produzent: Nurhan Sekerci, Herman Weigel und Fatik Akin
Stellen Sie sich vor, Ihnen wird alles genommen, was Ihnen lieb und teuer ist. Bei einem terroristischen Anschlag, der Ihrer Familie wegen ihrer außereuropäischen Herkunft galt, werden Ihr Sohn und Ihr Ehemann ermordet. Beim Prozess hören Sie dann in barbarischer wissenschaftlicher Neutralität präziseste Schilderungen davon, was ihnen genau zugestoßen ist. Das klingt dann so:

„Beim Kind fanden sich ein Inhalationstrauma mit samtartigen Schleimhautveränderungen im oberen und mittleren Atemtrakt sowie ein Barotrauma mit ausgeprägter akuter Überblähung der Lungen. (…) Beim Kind fand sich ein 3 cm messender klaffender Hautdefekt etwa mittig im Oberbauch mit noch hier steckendem Metallteil mit unregelmäßigen scharfen Rändern. Nach der Entfernung des im 8. Brustwirbelkörpers steckenden Metallteils konnten im Wundkanalverlauf Einreißungen von Dünn- und Dickdarm, am unteren Rand der Leber, sowie eine vollständige Durchtrennung der Bauchschlagader nachgewiesen werden. (…) An der Körpervorderseite konnten wir Verbrennungen von Kopf, Gesicht, Rumpf, Armen und auch Oberschenkeln nachweisen. Die Kopfhaare waren insbesondere im Bereich der Hirnschädelregion bis auf die Kopfschwarte niedergebrannt. Auch die Augen wiesen Verbrennungen auf; diese waren regelrecht geschmolzen.“

Und dann werden die Angeklagten aufgrund von marginalen, winzigen, kaum ernsthaft erwägenswerten Restzweifeln freigesprochen. Nachdem es schon ein Kampf gewesen war, die zwei Neonazis überhaupt vor einen Richter zu bringen. Schließlich war die Polizei in einem ersten Ermittlungsimpuls irgendwelchen erfundenen, denklogisch fernliegenden Unterweltgeschichten nachgegangen, weil sie sich in einem Land wie Deutschland keine rechtsradikalen Terroristen vorstellen konnte.

Wie lebt man jetzt weiter?

Zu dieser Frage spielen Hauptdarstellerin Diane Kruger in der Rolle der Katja Sekerci und Regisseur Fatih Akin in dem 2017 uraufgeführten Kinofilm nun mehrere Szenarien durch. Die psychologisch naheliegende Möglichkeit im Angesicht der völligen Hoffnungslosigkeit – Suizid – scheidet nach einem leichten Hoffnungsschimmer auf so etwas wie Gerechtigkeit aus. Als diese Option durch die Wirrungen der Justiz verschwindet, steht als nächste Möglichkeit die Rache im Raum: Nachdem sie den Aufenthaltsort der Täter ermittelt hat, will Katja sie in die Luft sprengen. Doch auch das kann, wie sie erkennt, keine Lösung sein. Denn ihr eigenes Schicksal ist an das der Mörder ihrer Familie gekettet. Und so beschließt sie, in einem letzten kathartischen Akt, dass sie mit ihnen gemeinsam aus dem Leben scheiden muss.

Mit dieser Geschichte ist den Machern eine erzählerische Konsequenz gelungen, die man im deutschen Fernseh- und Kinofilm zuallermeist vergeblich sucht. Denn anstatt sich in eine banalisierte, zu abstrakte Gegenüberstellung von Recht und Gerechtigkeit, Schuld und Strafbarkeit, Prozess und Aufarbeitung, Sühne und Weiterleben zu flüchten, konfrontiert «Aus dem Nichts» seine Zuschauer mit der radikalen Grausamkeit des Tatsächlichen. Dieser Film macht in aller prozessualen Brutalität und banalen Alltäglichkeit das Unfassbare plastisch, und gerade weil er seine Emotionalität niemals übersteuert, weil er die Trauer seiner Hauptfigur nicht wie eine Monstranz vor sich herträgt, weil er keine pathetische, diffuse Hoffnung auf ein besseres Morgen machen will, wo es doch kein Morgen mehr gibt, geht er dem Zuschauer so schmerzlich und seelisch nahe wie nur wenige andere.

Was «Aus dem Nichts» noch vom Gros des hiesigen Justiz-Drama-Outputs unterscheidet: Dieser Film will kein Argument in einer abstrakten Debatte über rechtsstaatliche Grenzen und institutionelle Gerechtigkeit sein. Er will nicht emotionalisieren, wo es eigentlich um eine intellektuelle Frage des gesellschaftlichen Zusammenlebens geht, und er will das Leid der Betroffenen nicht marginalisieren, wo das formale Recht – weil außerhalb seines Zuständigkeitsbereichs – keine individuell (!) seelisch (!) befriedigende Antwort mehr geben kann. Dieser Film will erzählen, und er weiß genau, was er dabei zu sagen hat. Er nimmt seine Zuschauer ernst, er schont sie nicht, er mutet ihnen das Zerrüttendste zu und lässt sie, insbesondere dank Krugers besonders einnehmender Performance, nie allein mit dem Unerträglichen.

Das muss man können – und man muss es auch wollen. Denn zu oft scheitert gerade der deutsche Film am Auslassen der Zumutungen, am Bedienen tumber Befindlichkeiten, an der radikalen Vereinfachung und Verzerrung. Akin und Kruger hingegen zeigen in aller Schonungslosigkeit den Zusammenbruch einer Welt und die Unmöglichkeit, wieder in ihr heile zu werden. Dabei ist die Hauptfigur so authentisch und klar geführt, dass Akin es gar nicht nötig hat, mithilfe tendenziöser, suggestiver Stilmittel für sie Partei zu ergreifen und ihr Handeln zu rechtfertigen. Es bedarf keiner Rechtfertigung von Katjas Mörderwerdung und ihrem Vergeltungsdrang, weil dieser Film kein dramaturgisch verklausuliertes Argument in die Welt setzen will, sondern seine Zuschauer stattdessen auf eine aufrichtige Reise in die tiefsten Abgründe der menschlichen Seele mitnimmt. Ein schwerer Stoff, ein wahrlich fürchterlicher – und einer, der deutschen Filmemachern vor Augen führen sollte, was alles zu stemmen ist, wenn man sein Publikum ernst nimmt.

Das ZDF zeigt «Aus dem Nichts» als Free-TV-Premiere am Montag, den 28. September um 22.30 Uhr.
27.09.2020 04:49 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/121621