«Gretel & Hänsel» - Und wieder eine Neuinterpretation des Märchens

In der neuen Leinwandinterpretation des bekannten Grimm-Märchens steht vorwiegend die selbst mit übernatürlichen Kräften gesegnete Gretel im Mittelpunkt. Doch ist das das einzige Argument für das Schauermärchen «Gretel & Hänsel»?

Filmfacts: «Gretel & Hänsel»

  • Kinostart: 9. Juli 2020
  • FSK: 16
  • Laufzeit: 87 Min.
  • Genre: Horror/Fantasy
  • Kamera: Galo Olivares
  • Musik: Robin Coudert
  • Buch: Rob Hayes
  • Regie: Oz Perkins
  • Darsteller: Sophia Lillis, Samuel Leakey, Alice Krige, Jessica De Gouw, Fiona O'Shaughnessy
  • OT: Gretel & Hansel (CAN/USA/IRL/ZAF 2020)
Vor gar nicht allzu langer Zeit entdeckten große Filmstudios ihre Faszination für klassische Märchenstoffe wieder. Da erschienen nicht bloß innerhalb eines Jahres zwei verschiedene Adaptionen von «Schneewittchen» (die eine erhielt wenig später sogar eine Fortsetzung) sondern eine Fantasy-Actionvariante von «Hänsel und Gretel» und eine düstere Version von «Rotkäppchen». Von den ganzen Disney-Realfilmremakes wie etwa «Cinderella» ganz zu schweigen. Nachdem es nach «Spieglein, Spieglein», den «Huntsman»-Filmen und «Red Riding Hood» kurz still um diesen neu entflammten Trend wurde, meldet sich Regisseur Oz Perkins («Die Tochter des Teufels») mit «Gretel & Hänsel» nun auf diesem Gebiet zurück. „Braucht man das?“ werden nun viele Fragen – erst recht, weil es ja mit «Hänsel & Gretel: Hexenjäger» gerade erst einen Film rund um die zwei sich verlaufenden Geschwister gegeben hat. Allgemeingültig lässt sich diese Frage schwer beantworten. Doch ein Blick auf Perkins‘ Projekt offenbart immerhin kaum Parallelen zu Tommy Wirkolas Hexenkiller-Version, sondern ist ein ruhiges, fast schon melancholisches Düstermärchen das insbesondere Gretel ganz neue Seiten (= Fähigkeiten) zugesteht.

Gretel und Hänsel verliefen sich im Wald...


Vor langer Zeit, in einem verfluchten Land: Die verzweifelte Suche nach Nahrung und Arbeit zwingt die junge Gretel (Sophia Lillis) und ihren kleinen Bruder Hänsel (Sammy Leakey) dazu, das elterliche Haus zu verlassen. Völlig orientierungslos irren sie umher und verlaufen sich in einem tiefen, dunklen Wald. Als sie auf eine Hütte stoßen, in der eine alte, freundlich wirkende Frau (Alice Krige) lebt, glauben Gretel und Hänsel, Zuflucht gefunden zu haben. Aber die von der Alten in Zeiten der Hungersnot aufgetischten Festmähler, das unheimliche Gemurmel fremder Kinderstimmen und mysteriöse Erscheinungen im Haus, lassen Gretel erahnen, dass sich hinter ihrem scheinbaren Glück etwas Böses verbirgt. Kann sie ihren jüngeren Bruder beschützen oder wird sie den Versuchungen erliegen, die in ihr aufsteigen? Langsam bahnt sich das Grauen seinen Weg…



Müsste man «Gretel & Hänsel» tonal mit irgendeinem anderen „Hexenfilm“ der letzten Jahre vergleichen – und mit «Hänsel & Gretel: Hexenjäger», «Suspiria» und dem deutschen Geheimtipp «Hagazussa – Der Hexenfluch» gab es davon ja so einige – liegen auf inszenatorischer Ebene noch am ehesten Parallelen zu einem absoluten Kritikerliebling auf der Hand. Zwar erzählt die vor allem die übernatürlichen Facetten der Hexe herausstellende Schauermär «Gretel & Hänsel» letztlich etwas ganz anderes als Robert Eggers in seinem deutlich bedeutungsschwangeren Glaubensdrama «The Witch». Doch die Vergleiche liegen vor allem in jenen Szenen auf der Hand, in denen die Vergangenheit der hier ganz stilecht in einer abgeschiedenen Waldhütte lebenden Hexe offenbart werden. Da geht es dann nämlich vor allem darum, welche Auswirkungen das Dorfgefüge auf die Eskalation der Ereignisse hatte und weshalb sich die der finsteren Magie mächtige Zauberin von ihm abwenden musste.

Weitere Details seien hier aus Spoilergründen nicht verraten. Nur so viel: «Gretel & Hänsel» rückt als erste große Filminterpretation überhaupt die Faszination für die böse Hexe in den Mittelpunkt. Der Versuch, dabei auch den beiden Kindern mehr und einen vom Original deutlich abweichenden Hintergrund zuzugestehen (so schwer ist das bei der sehr simpel gestrickten Vorlage ja ohnehin nicht), dringt allerdings nur bei Gretel weiter als bis knapp unter die Oberfläche durch.

... ein wenig finster und gar nicht bitterkalt


Kurz bevor es für die beiden Geschwister in den finsteren Wald geht, beschreiben wenige kurze, dafür umso einprägsamere Szenen wie es überhaupt zu dieser Verzweiflungstat kommen konnte. So ist es schon sehr unangenehm, mitansehen zu müssen, wie die von «Es»-Star Sophia Lillis verkörperte Gretel auf der Suche nach einer Arbeit von einem reichen Widerling aufs Übelste belästigt wird, woraufhin die Mutter lediglich zu kontern weiß, dass ihre Tochter auf die Avancen hätte eingehen sollen – dann hätte sie jetzt immerhin einen Job. Daraufhin müssen sie und ihr Bruder wegen Platzmangel umgehend die kleine Hütte ihrer Mutter verlassen; dass es in Wirklichkeit ihre hexenähnlichen Fähigkeiten sind, die ihre eigene Mutter von ihr abstößt, kristallisiert sich erst nach und nach auf der Reise heraus.

Durch diesen besonderen Kniff stellt Drehbuchautor Rob Hayes («Chewing Gum») das junge Mädchen und die böse Hexe alsbald auf eine Stufe; getrennt lediglich davon, dass die eine längst weiß, wie sie mit ihren Fähigkeiten umzugehen hat, während die anderen den Umgang damit erst noch lernen muss. Dass sich daraus zwangsläufig ein ganz anderer Konflikt ergeben muss, als man es vom klassischen «Hänsel und Gretel»-Märchen gewohnt ist, versteht sich von selbst. Abgerundet wird das Ganze schließlich von einer wirklich überraschenden Auflösung, die die Figur der Hexe vollends auf den Kopf stellt.

Nicht nur inhaltlich, auch inszenatorisch könnte «Gretel & Hänsel» nicht weiter von Tommy Wirkolas Hexenjagd-Action entfernt sein. Seine düstere Dramagrundlage findet im Design ihre Fortführung. Kameramann Galo Olivares (arbeitete unter anderem an Alfonso Cuaróns Meisterwerk «Roma» mit) findet zwar während der Innenaufnahmen nicht immer das richtige Maß für Dunkelheit und Helligkeit, sodass man im Inneren des Hexenhauses manchmal nur schwer erkennt, was da eigentlich gerade vor sich geht. Dafür sorgt er mit wunderbar gesättigten Farben und stets leicht verschobenen Perspektiven für absolutes Unbehagen, wenn die beiden kleinen Kinder durch den scheinbar nie enden wollenden Wald streifen. Das bekannte Motiv vom Kinder anlockenden Hexenhaus benötigt es in dieser unheilvollen Umgebung gar nicht; Gretel und ihr Bruder sind derart verzweifelt, dass ihnen ein Dach über dem Kopf (und eine sich freundlich gebende Hausbesitzerin) genügt, um einzukehren.

Wenngleich sich das im Anschluss folgende Katz-und-Maus-Spiel zwischen den Geschwistern und der Hexe hin und wieder zieht, weiß das gegenteilige Belagern doch zu gefallen. Es ist schon der Spannung dienlich, wenn sich nicht plötzlich ein sicheres Opfer und der Täter, sondern zwei potenzielle Täter gegenüberstehen. Schade, dass es nicht auch noch dafür gereicht hat, Hänsels Charakter ein wenig stärker herauszuarbeiten.

Fazit


«Gretel & Hänsel» ist eine spannende Neuinterpretation des bekannten Märchens, das mit einigen neuen Perspektiven überrascht, sich hin und wieder allerdings auch in die Länge zieht. Eine überraschende Auflösung kann dafür weitestgehend entschädigen.

«Gretel & Hänsel» soll demnächst in die deutschen Kinos kommen.
08.07.2020 10:00 Uhr  •  Antje Wessels Kurz-URL: qmde.de/119581