«Perry Mason»: Der Saul Goodman von HBO?

In der neuen HBO-Miniserie ermittelt sich Perry Mason durch das Los Angeles der Dreißigerjahre – und lässt dabei zahlreiche Parallelen zu Walter Whites Rechtsbeistand erkennen.

Cast & Crew

Produktion: Dwight Street Book Club, Inflatable Moose Inc. und Team Downey
Schöpfer: Rolin Jones und Ron Fitzgerald
basierend auf der gleichnamigen Figur von Erle Stanley Gardner
Darsteller: Matthew Rhys, Juliet Rylance, Chris Chalk, Shea Whigham, Tatiana Maslaney, John Lithgow, Nate Corddry u.v.m.
Executive Producer: Rolin Jones, Ron Fitzgerald, Robert Downey Jr., Susan Downey, Amanda Burrell, Joe Horaceck und Tim van Patten
Die prägendste Anwaltsfigur des amerikanischen Fernsehens dürfte im letzten Jahrzehnt Saul Goodman gewesen sein: ein windiger Typ, der seinen Abschluss in Fernkursen an der dubiosen Dödel-Universität eines amerikanischen Überseegebiets erworben hat, um sich bald nach seiner Niederlassung auf die Verschleierung von Geldwäsche zu spezialisieren, seine Kunden in reißerischen Mitternachtswerbespots zu akquirieren und schließlich im Nirgendwo von Nebraska unterzutauchen, nachdem er alle Drogenkartelle Mexicos gegen sich aufgebracht hat.

Verglichen mit Goodman ist Perry Mason eine seltsame Mischung aus dramaturgischem Ahnherr und radikalem Gegenentwurf: Auch Mason lehnte sich gerne gegen die elitären Justizinstanzen und ihren arroganten Standesdünkel auf, hätte sich aber nie theatralisch vor einer übergroßen pathetischen Malerei der amerikanischen Verfassung in seinem Büro ablichten lassen, um zum Kampf gegen „das System“ aufzurufen. Und auch wenn Mason bei Prozess und Sachverhaltsaufklärung gerne unorthodox vorging, hätte er nie die Schwelle in die Schwerkriminalität überschritten.

Vor dem nihilistischen, dauernd scheiternden Goodman wirkt die Figur Perry Mason mit ihren überbordenden Idealen, ihrem allzu messianisch vorgetragenen Kampf für das „Gute“ und „Richtige“ und ihren geschliffenen Plädoyer-Tiraden damit ziemlich antiquiert. Folgerichtig wählt HBO für seine achtteilige Mini-Serie also das Period Drama als (beachtlich opulent ausstaffierten) Ausgangspunkt: Im noiren Los Angeles der frühen Dreißigerjahre wird ein Baby bei einer fehlgeschlagenen Entführung ermordet – und bald geraten die Eltern ins Visier der zynischen Ermittler. Perry Mason (Matthew Rhys) kommt das seltsam vor, und er überredet – in Ermangelung einer eigenen Anwaltszulassung – seinen alten Weggefährten E. B. Jonathan (John Lithgow), den Fall zu übernehmen.

Vorbei an zahlreichen Nebenschauplätzen – Masons seltsame Immobiliensituation und eine sonderbare Old-Time-Religion-Sekte um die angeschickerte Sister Alice (Tatiana Maslany), die immer stärker von ihren eigenen Allmachtsphantasien überzeugt ist – will sich Perry Mason, in der Zeit stehen geblieben, ans Ziel ermitteln und dabei auch ziemlich gewollt wirkende aktuelle Anklänge einbringen: The power of the state wants to crush you, wird zu seinem Mantra über die Übermächtigkeit eines korrupten, vorurteilsbehafteten Staates, das eine etwas zu triviale Perspektive auf das heutige Amerika einnimmt.

Während der Krimi-Stoff gut geplottet ist, aber wenig spektakulär erzählt wird, gefällt die Gegensätzlichkeit zwischen dem getriebenen, lebensenttäuschten Perry Mason und der seltsam entrückten, überzeugend doppelbödig geführten religiösen Pseudo-Lichtgestalt Sister Alice umso besser. Jeder verkörpert die nahezu diametral entgegengesetzte Weltsicht des anderen, und doch sind sie einander trotz unterschiedlicher Interessen nicht unsympathisch: Leider lassen sich ihre gemeinsamen Szenen – hauptsächlich handlungsbedingt – an einer Hand abzählen, wodurch die spannendste Dynamik dieses Figurenorchesters enttäuschend ungenutzt bleibt.

So steht am Schluss ein erstaunlich retro geratenes Format, das mit Freude in seine erzählte Zeit eintaucht, ohne daraus ein überfrachtetes Panoptikum zu machen, und sich durch seine bildgewaltigen Sequenzen und die einnehmenden Performances seines prominenten Casts hervortut. Was fehlt, ist der Funke, den eine Figur wie Saul Goodman im Nu entfachen konnte: Denn Perry Mason ist als Charakter auch in einem Period Drama für die heutige Fernsehwelt zu clean, zu nett, zu unzerrissen, auch wenn man diesem übersympathischen Eindruck mit ein paar F-Bomben zuleibe rücken wollte. Walter Whites Anwalt ließ einen schon in seiner ersten On-Screen-Minute nicht mehr los; Perry Mason hätte dagegen auch in einer «Law-and-Order»-Folge auftreten können.

Deutschlandstart von «Perry Mason»: 31. Juli bei Sky.
28.06.2020 03:26 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/119407