Die «Lindenstraße» geht – aber durch die Vordertür

Seit beinahe 35 Jahren gehörte der Sonntagssendeplatz um kurz vor 19 Uhr der «Lindenstraße». Ab dem ersten Aprilwochenende 2020 wird dies anders sein. Grund genug, um sich einmal ausführlich mit dem Kultformat zu beschäftigen.

Der – zugegebenermaßen – recht abgedroschene Satz „Nichts hält für die Ewigkeit.“ ist einer, den über viele, viele Jahre wohl niemand mit der «Lindenstraße» in Verbindung gebracht hätte. Warum auch? Der Dauerbrenner war schließlich seit Ende 1985 eine feste Größe im Das-Erste-Programm. Insbesondere in den 2010er-Jahren wurde jedoch zunehmend lauter über das Ende der Serie spekuliert. Und so kam es dann doch auch für Außenstehende nicht vollkommen unerwartet, als die Verantwortlichen der ARD im November 2018 bekanntgaben, dass man sich gegen eine nochmalige Verlängerung der entsprechenden Verträge entschieden habe. Und gestern konnte man nun die Konsequenz dieser Entwicklung im TV begutachten: Ein letztes Mal war eines der bekanntesten Intros der deutschen Fernsehgeschichte zu hören, ein letztes Mal wurde der Episodentitel in drei verschiedenen Sprachen eingeblendet (diesmal Deutsch, Französisch und Italienisch) und ein letztes Mal endete eine Folge mit dem in mehr als drei Jahrzehnten nur leicht – diesmal verständlicherweise doch etwas stärker – veränderten Abspann. Irgendeine Folge? Nein, die 1758., die letzte.

Dass fiktionale Formate abgesetzt werden, ist an sich nichts Ungewöhnliches und gerade heutzutage geschieht dies immer häufiger und schneller. Stimmt der Quotentrend nach spätestens der zweiten oder dritten Episode nicht, ist es sehr wahrscheinlich, dass die restlichen der entsprechenden Auftaktstaffel bei einem Spartensender und/oder mitten in der Nacht „versendet“ werden. Wenn aber die Mutter (Beimer) aller Weeklys nicht fortgeführt wird, ist dies zweifellos eine Entscheidung von außergewöhnlicher Tragweite. Selbstredend hinkt der Vergleich mit den Anfangs- und Blütejahren der Produktion, da etwa die Fragmentierung, von der wir seit einigen Jahren sprechen, damals noch gar kein Thema sein konnte, weil selbst Sender, von denen es mittlerweile bereits Ableger gibt, damals schlicht noch nicht existiert haben – von Streamingdiensten und Mediatheken müssen wir logischerweise erst gar nicht anfangen.

Auch Deutschland insgesamt – und nicht nur die Sehgewohnheiten der Zuschauerinnen und Zuschauer – hat sich natürlich in den vergangen fast 35 Jahren sehr verändert. Die «Lindenstraße» wiederum ist gewissermaßen gleichzeitig mit der Zeit gegangen und doch die „Alte“ geblieben, was sie noch unkonventioneller als ohnehin schon erscheinen lässt. Zahlreiche leidenschaftliche Anhänger verweisen auf genau diesen Fakt, wenn sie erklären wollen, warum sie ihrem fiktionalen „Liebling“ so lange die Treue gehalten haben, während andere exakt darin die eigentliche Ursache für den «Listra»-Niedergang sehen. Will man verstehen, weshalb diese vermeintlich so gegensätzlichen Sichtweisen so verbreitet sind, bedarf es an sich noch nicht einmal eines Blickes in die Vergangenheit. Wer sich intensiver mit den Inhalten auseinandersetzt, die in den letzten Wochen und Monaten das Geschehen in der wohl populärste TV-Straße der Bundesrepublik bestimmt haben, wird schnell erkennen, dass sich für beide Positionen Argumente finden lassen – am Ende kommt es maßgeblich darauf an, wie man diese ganz persönlich gewichtet.


Das beginnt mit der Bildsprache: Schon das Intro, das die berühmte Außenkulisse inklusive Straße, Bus, Supermarkt und Parkplatz zeigt und uns quasi an einer uns sehr vertrauten Türschwelle „aussteigen“ lässt, damit wir anschließend bei Beimer, Zenker & Co. klingeln können, setzt den Ton für das, was uns danach erwartet. Das war in den 80ern so und ist heute nicht viel anders. Die Thematik, die in der Episode selbst im Mittelpunkt stehen wird, kann noch so brisant sein, die Handlung noch so dramatisch, die Ruhe dominiert, das Wohnzimmerfeeling, das durch die vielen Szenen aufkommt, in denen wieder und wieder Alltagssituationen abgebildet werden und in denen über Alltägliches gesprochen wird. Überspitzt formuliert, könnte man sagen: Erpressung ja, davor wird allerdings gefrühstückt, danach das Kind in die Kita gebracht, dann gearbeitet und eingekauft, bevor auch schon das Abendessen auf den Tisch kommt und schließlich das stark an das Ausgangsszenario erinnernde Outro (die Sonne ist jedoch inzwischen untergegangen) einsetzt und für eine Art Rahmen sorgt. Für die einen ist dies der Inbegriff von gähnender Langeweile und Monotonie, wohingegen andere hiermit Vertrautheit und einfach ein ritualisiertes Eintauchen in eine andere, aber keinesfalls zu weit von der Realität entfernten Welt assoziieren.

Dass in der Regel die Woche, die – im Normalfall – zwischen zwei regulären Ausstrahlungsterminen liegt, ebenfalls in den Drehbüchern Berücksichtigung findet, verankert das Dargebotene selbstverständlich noch einmal anders im Hier und Jetzt, als es bei Produktionen der Fall ist, bei denen das Publikum nie so recht weiß, welches der präsentierten Ereignisse wann genau stattgefunden hat. Dieser Effekt wird nochmal durch eines der absoluten Alleinstellungsmerkmale der «Lindenstraße» verstärkt: das Einbauen von aktuellen Nachrichten, die sich oftmals erst unmittelbar vor dem entsprechenden Sonntag ereignet haben. Diese sind häufig politischer Natur und passen damit wiederum zu der Tatsache, dass die wöchentliche Serie zeitlebens politisch war, was ihr die einen hoch anrechneten und die anderen oftmals kritisierten.

Dieser Aspekt wird unter anderem nämlich gerne angeführt, um darauf hinzuweisen, dass es sich beißt, wenn ein Format einerseits den Anspruch hat, authentisch zu sein, und andererseits die Bewohner eines einzigen Mietshauses und deren unmittelbare Nachbarn Dinge erleben lässt, für die ein Mensch normalerweise wohl Minimum die sprichwörtlichen 9 Katzenleben haben müsste. Auf diese Weise würde vielmehr eine Art Mikrokosmos geschaffen, der es eher verhindert, das Gezeigte als Kommentar auf die Gegenwart zu verstehen. Umgekehrt kann man argumentieren, dass es so möglich ist, den sich allwöchentlich vor den Bildschirmen (längst auch den kleinen) Versammelnden viele unterschiedliche Reaktionen auf ein und dasselbe Ereignis von gesellschaftlicher Relevanz vorzuführen – inklusive deren Folgen.

Und damit wären wir auch endlich beim Herzstück der Kultsendung angekommen: den Figuren und ihren Geschichten. Gut, ohne Protagonistinnen und Protagonisten käme auch keine andere fiktionale Produktion aus, also nichts Außergewöhnliches – möchte man meinen. De facto ist die «Lindenstraße» in dieser Hinsicht ein absoluter Sonderfall – allein ein Blick auf die Verweildauer zahlreicher Hauptdarstellerinnen und Hauptdarsteller belegt dies: Marie-Luise Marjan (Helga Beimer), Moritz A. Sachs (Klaus Klausi Beimer), Andrea Spatzek (Gabriele Gabi Zenker), Sybille Waury (Tanja Schildknecht), Hermes Hodolides (Vasily Sarikakis), Georg Uecker (Dr. Carsten Flöter) und Amorn Surangkanjanajai (Gung Pham Kien) lernten die Fans beispielsweise bereits innerhalb der ersten 10 Folgen kennen – ebenso wie den vor zwei Jahren freiwillig ausgestiegenen Joachim H. Luger (Hans Beimer) und den allein aus dramaturgischen Gründen nicht bis zum Schluss (aber immerhin noch bis Episode 1744) zum Hauptcast gehörenden Ludwig Haas (Dr. Ludwig Dressler). Irene Fischer (Anna Ziegler) ist seit 1987 mit von der Partie, Jo Bolling (Andreas Andy Zenker) sowie Rebecca Siemoneit-Barum (Iphigenie Iffi Zenker) seit 1990 und Sontje Peplow (Lisa Dagdelen, geborene Hoffmeister) seit 1991.

Neben diesen absoluten Urgesteinen gibt es noch eine Reihe weiterer Schauspielerinnen und Schauspieler, die schon überdurchschnittlich lange Mitglieder der «Listra»-Familie sind: Erkan Gündüz (Murat Dagdelen) und Anna Sophia Claus (Lea Starck) seit 1999, Jacqueline Svilarov (Nina Zöllig) und Joris Gratwohl (Alexander Alex Behrend) seit 2000 sowie Cosima Viola (Jacqueline Jack Aichinger) seit 2001. Sprich mehr als 2/3 des finalen Vor-der-Kamera Teams war (Drehpausen einmal ausgeklammert) seit mindestens knapp 20 Jahren in dieser fiktiven Welt zuhause. Diese Beständigkeit ist zweifelsohne in dieser schnelllebigen und auf neue Impulse fixierten Branche alles andere als eine Selbstverständlichkeit.

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Gleichzeitig kann nur so eine derart starke Beziehung zwischen TV-Favoritinnen und -Favoriten und Zuschauerschaft entstehen, wie es bei der «Lindenstraße» von Anfang an der Fall war. Wenn man selbst mit einigen der Charaktere mitwächst respektive sie aufwachsen sieht und nur in Ausnahmefällen „gerecastet“ wird, misst man ihnen auch logischerweise eine andere Bedeutung bei, als wenn der stetige Wechsel Normalität ist. Für sehr lange Zeit war das Format ein ähnlicher Pflichttermin in zahlreichen Familien wie vielleicht heute gerade einmal noch der «Tatort» oder die «Sportschau», der einfach dazugehörte – unter anderem aufgrund dieser speziellen Bindung zu den in Haus Nummer 3 Lebenden. Und gerade deswegen ist es umso bemerkenswerter, dass „Mister «Lindenstraße» himself“ Hans W. Geißendörfer, seine Tochter Hana, die 2015 das Zepter übernahm, sowie sämtliche Autorinnen und Autoren im Prinzip seit jeher nahezu keiner Figur so wirklich zugestanden haben, ausschließlich auf der Sonnenseite des Lebens zu stehen. Heißt: Selbst absolute Sympathieträger waren nicht davor gefeit, durch ein oder zwei falsche Entscheidungen plötzlich massiv in der Gunst der Anhänger und ihrer (fiktiven) Mitbewohnerinnen und Mitbewohner zu sinken. Und selbst wenn diese „Täler“ überwunden schienen, wurde nie (wie bei manch anderen Serien) von diesem Augenblick an der Mantel des Schweigens über Vorfall X gehült, sondern anlassbezogen auch durchaus wieder der Finger in die Wunde gelegt, was letztlich der Glaubwürdigkeit des Erzählten zugutekam.

Dies führt automatisch zu auf den ersten Blick sehr klar definierten, auf den zweiten allerdings ziemlich facettenreichen Figuren. Zu solchen, die es jedoch auch braucht, um 2020 (und in den Jahren davor) mit Storylines aufwarten zu können, die wahrscheinlich heute nicht mehr in die Kategorie „Tabubruch“ fallen würden, die dafür aber Minimum noch zu polarisieren vermögen. Allein in den letzten Monaten ging es unter anderem um Hebephilie, Gentrifizierung oder den selbstbestimmten Tod – Themen, um die viele Mitbewerber des „Fernsehdinos“ eher einen Bogen machen. Gerade die Art, wie man letzteres allerdings in die zielstrebig auf das große Finale zusteuernde Handlung integriert hat, steht exemplarisch für Glanzmomente, die in knapp dreieinhalb Jahrzehnten sicherlich nicht die Regel sein können, jedoch häufiger vorkamen, als manch einer, der seit Ewigkeiten wohl selbst YouTube-Clips meidet, nun aller Welt in den sozialen Netzwerken (zum Beispiel „Spacehorst" ) weismachen möchte.

Wie Jack Ludwig, nachdem sie ihn erst noch von seinem Plan abbringen wollte, schließlich doch auf seinem letzten Weg begleitet und ihm dabei hilft, sein Leben, an dem er trotz seines hohen Alters bis zuletzt hängt, so beenden zu können, dass er der unheilbaren Krankheit, die man bei ihm, dem Arzt, dem Fachmann, kurz zuvor diagnostiziert hat, zuvorkommen kann, dürfte niemanden kaltgelassen haben. Gerade auch, weil er, der ewige Strippenzieher, es bis zuletzt nicht lassen konnte und auch nach seinem Tod seine Liebsten noch vor besondere Herausforderungen stellen musste, die letztendlich aber dennoch beweisen, dass Dr. Ludwig Dressler etwas aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt hat. Überhaupt steht dieser Plot sinnbildlich für ein in vielerlei Hinsicht beispielhaftes Zusammenführen von Handlungssträngen. Die Verantwortlichen haben offenkundig keine Zeit verschwendet, nachdem endgültig feststand, dass sie auf ein nicht mehr abzuwendendes Ende zusteuern, weswegen sich ein Großteil der Geschichten aus 2019 und 2020 auch wie eine große Verabschiedung anfühlt.


Eine, die – typisch «Lindenstraße» – nicht für jeden ein Happy End bereithält und die selbst die Happy Ends, zu denen es kommt, mehrfach nicht ohne Schönheitsfehler auskommen lässt. Eine, in der große Meister der Filmkunst wie David Lynch zitiert werden, in der sich zahlreiche vertraute Gesichter auf zum Teil sehr unorthodoxe Weise noch einmal die Ehre geben, Hans W. Geißendorfer sogar selbst einen kleinen Part übernimmt, in der einem prominenten Fan wie Ex-VIVA-Gesicht und Podcaster Nilz Bokelberg mitsamt seiner dem Vorabendklassiker gegenüber eher (wie sich ihrem gemeinsamen Podcast „Wiedersehen macht Freude“ entnehmen lässt) „skeptisch“ eingestellten Verlobten Maria Lorenz ein kleiner Gastauftritt zugestanden werden kann, in der viele kleine Anspielungen auf legendäre Serienmomente (#lisaunddiebratpfanne) sowie auf die eigene Absetzung Platz finden und, und, und.

In der finalen Folge „Auf Wiedersehen“, deren Titel sicherlich auch in Anlehnung an die erste, die mit „Herzlich willkommen“ überschrieben war, entstanden ist, stehen nun noch einmal die beiden ewigen Rivalinnen Helga und Anna im Mittelpunkt – wie aus der sehr sehenswerten Dokumentation „Bye Bye Lindenstraße“ hervorgeht, haben Marie-Luise Marjan und Irene Fischer auch das allerletzte Bild der Formathistorie gemeinsam aufgenommen, das übrigens – so viel sei verraten – nicht das letzte ist, das die Zuschauerinnen und Zuschauer zu sehen bekommen. Neben diesen finalen Szenen zwischen den beiden Frauen von Hans Beimer, dem in gewisser Weise symbolischen Einzug neuer Nachbarn und einem schlüssig in das Drehbuch eingebauten „Schaulaufen“ des restlichen Ensembles bekommt in dieser Episode interessanterweise noch die vielleicht einzige echte Intrigantin, die je über längere Zeit ihr Unwesen in der «Lindenstraße» treiben durfte und die seit 2007 wunderbar von Daniela Bette gespielt wird, verhältnismäßig viel Screentime eingeräumt: Angelina Dressler, die vor ihrer Adoption durch Ludwig noch Buchstab hieß.

Ohne zu viel zu verraten: Dass man sie hier handeln lässt, wie sie handelt, ist quasi der letzte Beweis dafür, dass die inhaltlich Verantwortlichen nie darauf aus waren, jeden am Ende zufriedenzustellen. In diesem Kontext sei an die Taten der leidenschaftlich „gehassliebten“ «Listra»-Antagonisten Robert Engel (Martin Armknecht), Oliver Olli Klatt (Willi Herren) oder Olaf Kling (Franz Rampelmann) erinnert. Allein wegen des dramaturgischen Mutes, solche Ekel kreiert zu haben, die sich deutlich von all den klassischen Daily-Biestern und -Fieslingen unterscheiden, die TV-Deutschland ansonsten zu bieten hatte und hat, sollte man über den einen oder anderen Dialog, der womöglich eine Spur zu konstruiert klingt, großzügig hinwegsehen.

Wie anfangs bereits angedeutet: Es ist nachvollziehbar, warum die «Lindenstraße» mindestens so viele Kritiker wie Befürworter hat, dennoch macht (auch bei der Besprechung von TV-Produktionen) der Ton die Musik. Selbst wenn man also das Format schon lange für überholt hält und sich seit einer gefühlten Ewigkeit fragt, weshalb es nicht längst abgesetzt worden ist, sollte man dennoch anerkennen können, dass Familie Geißendörfer und ihr Team etwas geschaffen haben, das TV-Geschichte geschrieben hat, und die Leistung aller Beteiligten daher Respekt verdient, was selbstredend nicht bedeutet, sich nicht auch kritisch zu der Serie, die auf die nach wie vor laufende britische Soap «Coronation Street» (seit 1960 on air) zurückgeht, äußern zu dürfen – denn genau das wiederum, die Kontroverse, ist immerhin wesentlicher Bestandteil ihrer eigenen DNA.
30.03.2020 06:30 Uhr  •  Florian Kaiser Kurz-URL: qmde.de/117138