Die Kritiker: «9 Tage wach»

So katastrophal wie ProSiebens Rückkehr aus der Fiction-Abstinenz Ende 2019 ausfiel, so gelungen ist der nächste eigenproduzierte Film: Jannik Schümann als drogensüchtiger Schauspieler in einer mitreißenden Tour de Force.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Jannik Schümann als Erik Stehfest
Peri Baumeister als Anja
Heike Makatsch als Liane Stehfest
Benno Fürmann als Tilo
Martin Brambach als Karl Hoffmann
Gitta Schweighöfer als Walburga Stehfest
Jürgen Heinrich als Hans-Peter Stehfest

Hinter der Kamera:
Produktion: Gaumont GmbH
Drehbuch: Damian John Harper (auch Regie), Fabian Wiemker und Eric Stehfest
nach der gleichnamigen Autobiografie von Eric Stehfest und Michael J. Stephan
Kamera: Cristian Pirjol
Produzenten: Andreas Bareiss und Sabine de Mardt
Die meisten Filme über Drogensucht kranken an ihrer Aufklärungsdramaturgie. Sie wollen erklären, wie es dazu kam, dass ihre Figur der Versuchung von Alkohol, Kokain, Heroin, Crystal Meth oder einer beliebigen anderen Substanz verfiel, wie sie deshalb über kurz oder lang, durch Manie und Depression, Lügen, Isolation und Zurückweisung in der Gosse landete und daran umkam oder sich doch wieder „zurück ins Leben kämpfte“, wie säftelnde Pressetexte das oft – ziemlich schmierig – nennen.

«9 Tage wach», das sich an der Biographie des weitgehend unbekannten deutschen Serienschauspielers Erik Stehfest orientiert, geht schon ganz am Anfang einen anderen Weg. Denn das „Abgleiten“ in die Sucht hat Stehfest da schon lange hinter sich, während seine Mutter (Heike Makatsch) und deren Partner (Benno Fürmann) sichtlich nicht zum ersten Mal darüber streiten, was man mit dem 24-Jährigen machen soll. Ihm weiter gut zureden, ihn unterstützen, ihm fürsorglich Möglichkeiten für ein suchtfreies Leben aufzeigen – oder ihn verstoßen, sich vor ihm schützen, um all die Zumutungen seiner Sucht, die Kriminalität, die Lügen, die Unzuverlässigkeit, die Kränkungen, nicht mehr mitmachen zu müssen?

Von Anfang an fällt auf, wie wenig didaktisch dieser Film sein will, wie er stattdessen mit filmischen Mitteln zeigen und nicht erklären will, wie fern ihm der erhobene moralinsaure Zeigefinger liegt, und wie sehr er sich auf die Psychologie seiner Figur, ihr Leben, ihre Ideale, ihre Schwierigkeiten einlassen will.

Dabei lässt das Drehbuch seine Geschichte mäandrieren, wie ein Suchtkranker zwischen ein paar clenanen Monaten und dem nächsten Absturz, dem erneuten Entzug und dann wieder dem übermächtigen Suchtdruck alterniert. Das Leben eines Süchtigen ist konfus und strukturlos, wie sollte sich dann also die Dramaturgie schnörkellos von der Etablierung über die Durchführung bis hin zur Auflösung hangeln und dabei authentisch erzählen? Sich im Kontext des formelhaften deutschen Fernsehfilms von diesen starren Strukturen zu lösen, erfordert einiges an Mut und erzählerischer Überzeugungskraft – und nicht zuletzt deshalb gefällt dieser Film so gut.

Denn er macht sich – auch dank der starken Präsenz von Hauptdarsteller Jannik Schümann – in oft schonungsloser Offenheit die Manie seiner Hauptfigur zu Eigen, er hat (auch bildlich) keine Angst vor den ekligen, allzu menschlichen Momenten, und hält doch stets die richtige Balance, um kein überkandidelter, exploitativer Schocker zu werden, sondern die psychologisch dichte, authentische Geschichte eines jungen verlorenen Künstlers, dessen unverarbeitete Schwierigkeiten der Vergangenheit immer wieder aufs Neue den Nährboden bereiten, auf dem seine Drogensucht gedeiht.

Die dringend nötige Struktur erhält sein Leben (interessanter- oder paradoxerweise) mit der Kunst, auf einer Schauspielschule, unter der rigiden Ägide eines alten Lehrmeisters (wunderbar intensiv: Martin Brambach), der von seinen Studenten Leidensfähigkeit fordert, Durchhaltefähigkeit, Mut und Disziplin. Tugenden, mit denen ein Crystal-Meth-Abhängiger im Normalzustand ähnlich gut punkten kann wie der durchschnittliche australische Oktoberfestbesucher mit seiner Fahrtüchtigkeit. Doch mit der richtigen Motivation geht eine Zeit lang vieles – bis die nächste Krise wartet; und das ist niemals lange.

Da ist es nur konsequent, dass der Film das Ende der Suchtkrankheit seiner Figur nur anreißt, als Beginn einer neuen langen (Helden-)Reise, die unweigerlich voller Schwierigkeiten sein wird, und diese Herkulesaufgabe doch filmisch klein zu portionieren versteht. Das erste Glas stehen lassen, Nein sagen, heute nicht. Aufarbeitung ist kein magischer Moment, sondern ein steiniger, schmerzhafter Weg: Schön, dass sich ProSieben entschlossen hat, ihm mit erzählerischer Aufrichtigkeit und ernsthafter Ambition zu begegnen.

ProSieben zeigt «9 Tage wach» am Sonntag, den 15. März um 20.15 Uhr.
14.03.2020 13:20 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/116694