Die Kritiker: «Polizeiruf 110 - Die Lüge, die wir Zukunft nennen»

Visuell beeindruckend, aber inhaltlich zu sehr auf die Zwölf: Der Startschuss zum neuen Münchener «Polizeiruf 110» von Regisseur Dominik Graf fällt zwiegespalten aus.

Cast & Crew

Vor der Kamera:
Verena Altenberger als Oberkommissarin Elisabeth Eyckhoff
Andreas Bittl als Oberkommissar Werner Maurer
Wolf Danny Homann als Lukas Posse
Dimitri Abold als Tobias Rast jr.
Robert Sigl als Roman Blöchl
Berivan Kaya als Meryem Chouaki
Ursula Gottwald als Dallas

Hinter der Kamera:
Produktion: Maze Pictures GmbH
Drehbuch: Günter Schütter
Regie: Dominik Graf
Kamera: Martin Farkas
Produzent: Philipp Kreuzer
Wenn in einem deutschen Fernsehfilm das uralte Soldatenlied „Ich hatt‘ einen Kameraden“ abgesungen wird, weiß man: Jetzt geht es gleich um Korpsgeist, mit ähnlicher Zielgenauigkeit, wie wenn der Hund von Pawlow eine Klingel hört.

Der Auftakt zur neuen Münchener «Polizeiruf»-Reihe um Oberkommissarin Elisabeth Eyckhoff (Verena Altenberger) knöpft sich dazu eine bunt zusammengewürfelte Polizei-Einheit vor, die aufgrund „des großen Egos einen kleinen Staatsanwalts“ die Geschäftsräume der aufstrebenden MMT-Gesellschaft abhören soll, deren Managern man vor dem Hintergrund einer baldigen günstigen Fusion Insiderhandel vorwerfen will. Da man im Mittleren Dienst nun nicht gerade Betriebswirtschaft studiert haben muss, aber doch Eins und Eins zusammengezählt bekommt, sieht die illustre Bullenbande die Gelegenheit gekommen, sich ein paar nerviger Hauskredite, Hypotheken und alltäglicher finanzieller Budgetlücken zu entledigen, indem man – verschleiert über einen ominösen Börsenmakler – selber in den Insiderhandel einsteigt. Blöd, dass die Kollegen im Höheren Dienst etwas weiter zählen können als die aus dem Mittleren, und deshalb die Problematik kommen sehen. Ihr grandioser taktischer Kniff, mit dem sich ihr jahrelanges Jurastudium endlich auszahlt: Sie setzen Oberkommissarin Eyckhoff auf die korrupten Kollegen an, um sie auszuhorchen und Beweise zu beschaffen. Die macht nun aber wiederum mit den wirtschaftskriminellen Dienstbrüdern gemeinsame Sache und bequatscht sie, die Karten auf den Tisch zu legen, um wenigstens noch mildernde Umstände rauszuhandeln. Die denken nicht daran, schmoren im Saft ihrer Korruption – während sich die Lage sukzessive zuspitzt und irgendwann natürlich vollends eskaliert.

Warum ein Haufen Beamter, dem es in der wirtschaftlichen Sicherheit der Mittelschicht eigentlich gut geht, plötzlich mit strafbaren Insidergeschäften seine gesamte zivile Existenz aufs Spiel setzt? Alfred Döblin hätte das mit dem Dictum beantwortet: „Weil sie vom Leben mehr wollen als das Butterbrot.“ In „Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ klingt das weniger poetisch-allerklärend, sondern mehr nach tumben Agitprop-Slogans: Weil man eben auch mal kräftig zulangen will, wenn man ständig „die Interessen des Kapitals“ zu vertreten hat, aber nie bei der endlosen Champagnersause in den herzlosen Bürogebäuden an der Hackerbrücke mitmachen darf, wie Oberkommissarin Eyckhoff bemüht altklug zu Protokoll gibt. Ihr von der BaFin zugeteilter Kollege (Wolf Danny Homann) ist dann neben der romantischen Anziehungskraft noch für die Abladung der Exposition zum Thema Allesvernetzung zuständig, die dieser Film natürlich ebenfalls explizit kritisieren zu müssen meint: Die NSA sammelt prophylaktisch einfach mal alles, um später das auswerten zu können, was strafrechtlich relevant oder politisch opportun ist, und baut Informationen der „Washington Post“ zufolge in der Wüste von Utah Rechenzentren mit einer Speicherkapazität, die in die Hexabytes geht. Na, da schau an.

Während die Haltung von „Die Lüge, die wir Zukunft nennen“ wie bei einer deprimierenden Attac-Demo mit dem Megaphon kommuniziert wird, gefällt die Darstellung der psychologischen Dispositionen der Korpsgeist-getränkten Einheit und ihrer volatilen Dynamiken, die mitunter krude, in ihrer inneren Logik jedoch stimmige Entwicklungen annehmen, deutlich besser. Dazu passt auch Dominik Grafs stilistisch typisch entrückte Inszenierung, die dem «Polizeiruf»-Debut zumindest bei diesen Aspekten eine angenehm reduzierte Symbolträchtigkeit und Traumartigkeit verleiht. Mit einer weniger naiven Hauptfigur, ohne die penetrante Überbetonung seiner Kapitalismus-ist-scheiße-Haltung und einer weniger gestelzten Begegnung mit dem Brandthema Korruption im Polizeialltag wäre daraus eine Sternstunde der aktuellen Fernseh-Fiction geworden.

Das Erste zeigt «Polizeiruf 110 – Die Lüge, die wir Zukunft nennen» am Sonntag, den 8. Dezember um 20.15 Uhr.
06.12.2019 11:20 Uhr  •  Julian Miller Kurz-URL: qmde.de/114200