«Wo die Erde bebt»: Oscargewinnerin + Erfolgsroman + Top-Regisseur = starker Netflix-Film?

Das Tokio der späten 80er, eine Frau verschwindet, die Mörderin scheint gefunden, doch selten sind die Dinge bekanntlich so, wie sie im ersten Moment scheinen. Wie sie tatsächlich sind, erfährt, wer sich mit Alicia Vikander auf eine faszinierende und durchaus düstere filmische Reise begibt ...

Werden Schauspielerinnen und Schauspieler danach gefragt, weshalb sie sich für ihren Beruf entschieden haben, antwortet die Mehrheit von ihnen zumeist: „Weil ich es liebe, in andere Rollen zu schlüpfen.“ Gut, könnte man meinen, das bringt der Job eben mit sich. In jedem Film, jedem Theaterstück, jeder Serie oder jedem Hörspiel trägt er oder sie schließlich einen anderen Namen und verschafft dem Publikum einen Einblick in ein (zumeist) fiktives Leben. Im Laufe einer Karriere sammeln sich auf diese Weise eine Menge Charaktere an, denen man Leben eingehaucht hat. Und je mehr Rollen in einer Vita zu finden sind und je erfolgreicher die Produktionen, in denen sie oder er zu sehen war, desto stärker die entsprechenden Performances, ist ja logisch …oder etwa nicht?

Ebenso wenig, wie man vom kommerziellen Erfolg eines Films auf die Qualität des Drehbuchs oder die des Dargebotenen insgesamt schließen kann, ist die Anzahl der Projekte, an denen eine Akteurin oder ein Akteur mitgewirkt hat, gleichzusetzen mit deren oder dessen schauspielerischem Vermögen. Nun heißt dies im Umkehrschluss allerdings auch nicht, dass man die Vorlieben des Publikums einfach ignorieren darf. Es ist Fakt, dass eine Menge Menschen inhaltsunabhängig ins Kino gehen, den Fernseher einschalten oder eine Serie streamen, wenn sie wissen, dass sie gleich einem ihrer Lieblinge begegnen werden. Und nicht selten ist dann die Erwartungshaltung auch die, dass man gerne etwas Vertrautes sehen möchte, und das meint eben oft ebenfalls, dass es für die Zusehenden eher okay ist, schlicht die favorisierte Darstellerin oder den favorisierten Darsteller mit anderem Namen, jedoch sonst so wie gewohnt zu erleben als jemanden, der wirklich eins mit seiner Rolle und denjenigen vor dem Bildschirm dadurch automatisch auch etwas fremd wird.

Alicia Vikander ist nun eine Vertreterin ihrer Zunft, die die ihr angebotenen Skripts offenbar sehr gezielt daraufhin abklopft, ob sie ihr die Möglichkeit zum „Fremd-Erscheinen“ überhaupt bieten. Und daher liegt es mehr als nur auf der Hand, warum sich die langjährige Balletttänzerin, die es schon früh auf die Bühne gezogen hat, auf das Abenteuer «Wo die Erde bebt» eingelassen hat. Immerhin handelt es sich bei ihrer Rolle, Lucy Fly, um eine nach Japan ausgewanderte Übersetzerin, die – hier nimmt der von Ridley Scott produzierte Film eine kleine Anpassung im Vergleich zur literarischen Vorlage vor – ursprünglich aus Schweden kommt, aber perfekt Englisch spricht. Als Protagonistin steht sie logischerweise auch im Zentrum des Geschehens, Regisseur Wash Westmoreland geht allerdings einen Schritt weiter – so wie er es bei seinen letzten cineastischen Arbeiten ebenfalls getan hat: Die komplette Handlung von «Earthquake Bird», so der Originaltitel, wird nämlich nicht nur von der Hauptfigur bestimmt, sie ist gewissermaßen deren pulsierendes Herz. Bei «Still Alice – Mein Leben ohne Gestern», in dem Julianne Moore brillierte, und «Colette», der von Keira Knightley getragen wurde, war es ganz ähnlich. Das letztgenannte Historiendrama war gleichzeitig das erste Projekt, das Westmoreland ohne seinen langjährigen Lebens- und Arbeitspartner Richard Glatzer, der 2015 einer schweren Krankheit erlag, vollenden musste. «Wo die Erde bebt» das erste, das er nach dem Tod seines Ehemanns realisierte.

Es sprach also viel dafür, dass dieses Netflix Original etwas Besonderes werden könnte – schließlich wurde auch der Roman gleichen Namens aus der Feder von Susanna Jones aus dem Jahre 2001 mehrfach ausgezeichnet. Dies mag auch daran liegen, dass die Engländerin einst selbst nach Japan aufgebrochen und dort – ganz wie die von ihr ersonnene Lucy – als Übersetzerin gearbeitet hat. Denn diese Geschichte atmet Japan, und vor allem das boomende Japan der 80er-Jahre – kurz bevor es das vorerst nicht mehr tat. Es atmet dieses Land, das von vielen, die es zum ersten Mal besuchen, oftmals als sehr faszinierend beschrieben wird, als ein Land, das einem am ehesten einen Eindruck davon vermitteln kann, wie es wohl wäre, auf einem – etwas überspitzt formuliert – unbekannten Planeten zu leben. Denn nicht nur Kultur und Brauchtum ganz allgemein haben hier einen völlig anderen Stellenwert als etwa in vielen Ländern Europas, sondern auch der Alltag unterscheidet sich in vielerlei Hinsicht stark. Hinzu kommt eine äußerst anspruchsvolle Sprache, die wohl nur mit sehr viel Fleiß, Ausdauer und Willen zu erlernen ist.

Lucy Fly verfügt über all diese Eigenschaften, spricht fließend Japanisch und überrascht damit mehrfach ihre Gesprächspartner. Außerdem musiziert sie mit einigen Japanerinnen unterschiedlichen Alters, die junge Frau ist Cellistin, und besitzt eine schöne Wohnung – besser integriert kann man wohl nicht sein. Und doch erwähnt sie einmal – beinahe beiläufig –, dass sie gerne allein ist. Moment, wie passt das zu einem Leben in einer der Städte mit der weltweit höchsten Bevölkerungsdichte? In der Frage steckt die Antwort: Wo viele Menschen leben, fällt es einem sehr viel leichter, in der Menge unterzugehen als in einer Kleinstadt – vor allem wenn man es darauf anlegt. Nun ist es nicht so, dass die Engländerin keine sozialen Kontakte hätte – s. oben –, die Ausgewanderte lässt jedoch niemanden so recht an sich heran – auch die wenigen von ihr gepflegten Freundschaften sind keine tiefgehenden. Und das liegt eindeutig nicht an den Menschen aus ihrem Umfeld. Aber warum ist Alicia Vikander die ideale Besetzung für diese Figur?

Um zu verstehen, warum dem so ist, lohnt ein Blick in ihre jüngere und nicht mehr ganz so junge Vergangenheit: Die – im Verhältnis – noch recht junge Hollywood-Laufbahn der Schwedin zeichnet nämlich (bis dato) vor allem aus, dass Abwechslung von ihr in jederlei Hinsicht großgeschrieben wird. Beinahe jedem Genre hat die Mimin bereits ihren Stempel aufgedrückt: Erstmals übernahm sie einen bedeutenden Part in «Die Königin und der Leibarzt» an der Seite von Mads Mikkelsen. Dieser Film kam im Jahre 2012 in die Kinos – ebenso wie «Anna Karenina», in dem sie deutlich weniger Screentime hatte, diese jedoch optimal zu nutzen verstand. Für viele schien spätestens jetzt klar, dass die Skandinavierin von nun an auf Kostümfilme abonniert sein würde.

Doch weit gefehlt: In dem Gegenwartsthriller «Inside WikiLeaks – Die fünfte Gewalt» spielte sie an der Seite von etwa Daniel Brühl, Moritz Bleibtreu und Benedict Cumberbatch Anke Domscheit-Berg, eine Deutsche, nachdem sie in den Historiendramen davor schon eine Dänin und eine Russin verkörpert hatte. In dem kleinen, aber feinen und sehr berührenden Weltkriegsdrama «Testament of Youth» dann eine Engländerin neben beispielsweise Jon Snow, äh, Kit Harington und in «Son of a Gun» wie auch später in «Liebe zwischen den Meeren» – bei dieser Produktion lernte sie übrigens ihren jetzigen Mann Michael Fassbender kennen – eine Australierin. In «Im Rausch der Sterne» ließ sie die Kinobesucher 2015 glauben, eine Französin zu sein, die sich mit Bradley Cooper „herumschlagen“ musste und in der Action-Komödie «Codename U.N.C.L.E» von Guy Ritchie bewies sie als Gaby aus Ost-Berlin komisches Talent und zeigte sich gleichzeitig von einer sehr toughen Seite. Ihren Oscar als beste Nebendarstellerin gewann sie für ihre herausragende Leistung in «The Danish Girl» als Dänin Gerda Wegener, der Ehefrau von Eddie Redmaynes Figur, die sich im falschen Körper fühlt. Bei Matt Damons Rückkehr als Jason Bourne in «Jason Bourne» durfte sie 2016 dann die CIA-Agentin Heather Lee mimen und 2017 in «Tulpenfieber» die Niederländerin Sophia Sandvoort, deren Gatte von Christoph Waltz dargestellt wurde. Danach wirkte Vikander in «Euphoria», bei dem ihre enge Vertraute und Förderin Lisa Langseth Regie führte, und dem von Wim Wenders inszenierten «Grenzenlos» mit, die allerdings bei Weitem nicht so viel Beachtung fanden wie zwei andere Leinwandabenteuer, denen sie ihren Stempel aufdrückte.

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Sofern man die Actrice 2012 nicht als Königin Caroline Mathilde erlebt hatte, dürften viele, die sich 2015 den Science-Fiction-Geheimtipp «Ex Machina» von Alex Garland im Lichtspielhaus ihres Vertrauens angesehen haben – wenige Monate nach dessen Veröffentlichung gab die junge Schauspielerin zudem ihr Fantasy-Debüt in «Seventh Son» –, ihren Augen nicht getraut und spätestens beim Abspann nur noch eine Frage im Sinn gehabt haben: Wer war das, der diese wahnsinnig facettenreichen KI Ava auf so eindrucksvolle Weise zum Leben erweckt hat? Die Antwort überspringen wir, denn allerspätestens 2018 wusste es die Mehrheit derer, die es wissen wollten, da trat Alicia Vikander nämlich das Erbe von Angelina Jolie als Lara Croft – bekanntermaßen eine britische Adlige – in «Tomb Raider» an. Dieser Blockbuster steigerte nicht nur ihre Popularität von jetzt auf gleich massiv, sondern brachte ihr einmal mehr eine Menge Bewunderung ein, weil sie auch als Actionheldin, die sich so selten wie möglich doublen ließ und im Vorfeld der Dreharbeiten enorm viel trainiert hatte, auf ganzer Linie überzeugte – und aus einem durchschnittlichen einen sehenswerten Film machte. Die entscheidende Erkenntnis ist demnach folgende: Die Oscarpreisträgerin hat sich geradezu darauf spezialisiert, sich „Fremdes" regelrecht zu Eigen zu machen, Sprachen oder zumindest Akzente zu erlernen respektive zu perfektionieren und sich wieder und wieder neuen Herausforderungen zu stellen. Kein Hürde ist ihr offenbar zu hoch.

Die ausgewählten, jedoch nicht gerade wenigen japanischen Sätze, die die Darstellerin zu sagen hat, stehen somit gewissermaßen sinnbildlich für ihren enormen Ehrgeiz und die Akribie, die ihre Rollenvorbereitung auszeichnet. Dieses Perfektionismus bedarf es allein schon deshalb, weil dieser Charakter von dem Kontrast zwischen diesem scheinbar makellosen Äußerem und Lucys innerer Leere lebt. Ebendieser ist zudem maßgeblich verantwortlich für die Grundtonalität dieses „Arthouse-Thrillers“. Dieser ist nämlich selbst in seinen lautesten Momenten sehr ruhig und leise, und das Erzähltempo sehr gemächlich. Aus diesem Grund dürften ihn auch nicht wenige als langweilig empfinden, und das könnte man den Betreffenden auch nicht wirklich vorwerfen. Die für jedermann sichtbare Handlung ließe sich schnell zusammenfassen und ist ehrlicherweise auch nicht sonderlich spektakulär, all das aber, was sich im Innenleben der Protagonisten über die Dauer von 107 Minuten abspielt, und deswegen nur angedeutet werden kann, macht den Reiz der Romanadaption aus. Darauf muss man sich einlassen wollen, das sei an dieser Stelle ganz explizit gesagt.

Äußerst interessant ist in diesem Zusammenhang, wie Westmoreland mit den beiden anderen – vermeintlich – zentralen Figuren verfährt: Newcomer Naoki Kobayashi, der sich in Japan vornehmlich als Tänzer und J-Pop-Künstler einen Namen gemacht hat, spielt Teiji. Viel erfährt man nicht über ihn und alles kann aus Spoiler-Gründen nicht verraten werden, allerdings ist das auch eigentlich gar nicht nötig. Im Grunde steckt das Wichtigste schon im ersten Treffen zwischen dem Japaner und Lucy Fly. Er fotografiert – unter anderem sie –, sie will daraufhin wissen, ob er dazu nicht eigentlich ihre Erlaubnis bräuchte, dann geht es noch ein paar Mal hin und her und „das Ende vom Lied": Die beiden gehen etwas Trinken und unterhalten sich. Ja, mehr nicht und das bleibt lange so, und das ist dramaturgisch auch genau das Richtige, weil es jeden Anflug einer vorgefertigten Klischeeszene schon im Keim erstickt. Beide wollen überdies „ehrlich“ zueinander sein, was dazu führt, dass er sie ab diesem Zeitpunkt mit ihrer Erlaubnis ablichten darf, und das viele, viele Male, bevor mehr passiert, wobei für ihn Sex nicht im Ansatz den Stellenwelt zu haben scheint wie das Einfangen ganz bestimmter Momente.

Und so geht es in dieser Beziehung auch in erster Linie um das, was in Teijis „Fotostudio“, das man von außen wohl nicht als ein ebensolches identifizieren würde, abspielt. Er fotografiert sie regelrecht exzessiv, jedoch hat das nichts Anzügliches – er hindert sie sogar einmal bewusst daran, ihr Oberteil auszuziehen. Dieser sich ständig wiederholende Prozess steht für sehr viel mehr; ihr Gespräch gibt den entscheiden Hinweis: Die zwei können nicht unbedingt erklären, warum sie sich von ihrer ersten Begegnung an zueinander hingezogen fühlen – zudem auf eine für Außenstehende wohl am ehesten mit „platonisch“ umschriebene Weise. Tatsächlich geht das, was die Treffen der beiden, immer bei ihm und nie bei ihr, ausmacht, viel tiefer, als es zunächst den Anschein hat. Sie wie auch er blenden aus unterschiedlichen Gründen ihre Vergangenheit aus, leben im Jetzt, in den einzelnen Fotos, die stets einen ganz bestimmten Augenblick festhalten, die unverfälschte Wahrheit quasi. Sie philosophieren sogar darüber, ob man mit jedem Foto nicht auch gewissermaßen ein Stück seiner Seele abgibt. In diesem Kontext erhält der Begriff „Seelenstriptease“ eine völlig neue Bedeutung, und das Studio wird praktisch zu einer Art Parallelwelt, wo die Zeit stillsteht, wo die zwei nur für sich sind. Die „Außenwelt“ interessiert sie lange nicht, immerhin haben sie einander.

Diese gemeinsamen Shootings kann man aber auch anders deuten und muss es irgendwann sogar: Fotograf und Model haben nicht grundlos immer einen bestimmten Abstand zueinander und somit sind selbst Porträtaufnahmen auch immer Ausdruck von Distanz. Auf Lucy gemünzt heißt das, dass selbst die Person, die sie offensichtlich so nahe an sich heranlässt, der sie an einem bestimmten Punkt gar etwas sehr Persönliches anvertraut, für sie ein Fremder bleibt, weil sie nicht den Schritt geht, den die Engländerin, die sonst alle auf Abstand hält, bereit ist, zu gehen. Und dies mündet spätestens dann in einem „Machtspiel“, als die von Riley Keough, ihres Zeichens Enkelin von Elvis und Star der ersten Staffel «The Girlfriend Experience», dargestellte Lily Bridges in das Leben des Paares tritt. Diese ist nämlich so ziemlich das komplette Gegenteil von Lucy Fly: lebensfroh, lustig, locker, gesellig, allerdings ebenfalls ziemlich „verpeilt“ und (allein schon aufgrund der fehlenden Sprachkenntnisse) unselbstständig. Daher steht das Kennenlernen der Frauen auch unter völlig anderen Vorzeichen als das von Teiji und Lucy, da der „Neuankömmling“ auf die Hilfe der „Alteingesessenen“ setzt, die wiederum widerwillig mitspielt. Allerdings sind drei bekanntlich einer zu viel. Das Spannende: Das Was, Lilys Verschwinden, ist von Anfang an ein offenes Geheimnis, die Fragen nach dem Wie und Wer sind es, die es zu klären gilt, jedoch, wie angesprochen, nur vordergründig.

Primär geht es um die Protagonistin und darum, inwiefern diese beiden Menschen, die neu in ihr Leben treten, „etwas mit ihr machen“. Ihr Leben, von dem man glauben könnte, es sei seit jeher sehr monoton und langweilig gewesen, ist nämlich durchzogen von einschneidenden Erlebnissen – in denen mehrmals „Tod“ ein Thema war. Mit jedem Informationsfetzen, den Zuschauerinnen und Zuschauer erhalten, verstehen sie etwas mehr die Leere in Lucy Flys Augen, verstehen, warum ihr Name kein „telling name“ ist, warum sie trotz ihrer Flucht in die Ferne nicht „abheben“ kann, und warum sie stattdessen viel eher ein „Earthquake Bird“, also ein „Erdbebenvogel“, ist. Dieser ist nämlich immer zu hören, sobald nichts mehr vibriert, scheppert, klirrt oder in die Brüche geht, dann wenn sich die Welt in Sekundenbruchteilen an einem ganz bestimmten Ort zu einer ganz bestimmten Zeit grundlegend verändert hat. Daher ist sie so kontrolliert, so genau, so ordentlich, so kühl, so analytisch und verschlossen. Jedes dieser Ereignisse hat ihre Realität, ihre Wirklichkeit erschüttert, ihr wieder und wieder die Luft zum Atmen genommen und sie mit der Frage nach dem Schuldigen zurückgelassen. Durch die Häufung solcher Situationen sucht sie die Schuld, wie sich herausstellt, immer zuerst bei sich und hat Probleme damit, jemandem zu vertrauen – ein Teufelskreis. Dadurch entwickelt sie eine sehr eigene Sicht auf Dinge, sieht oftmals nicht nach links oder rechts und weiß in ihren schwächsten Momenten nicht einmal, ob sie ihren eigenen Augen noch trauen kann.

Da aber die Augen der Spiegel zur Seele sind, wie zumindest der Volksmund behauptet, braucht es – und so schließt sich der Kreis –, um all das Aufgeführte durch einen Bildschirm hindurch transportieren zu können, eine Schauspielerin, die einer solch anspruchsvollen Aufgabe auch gewachsen ist. Die es beherrscht, mit Mimik und Gestik so viel mehr zu sagen, als im gesamten Film zu hören ist oder sich aus dem Handeln der Figuren ableiten lässt, und vor allem braucht es jemanden, der dem Publikum „fremd erscheinen" und sich als Person vollkommen zurücknehmen kann. Jemanden, der allerdings ebenfalls dazu in der Lage ist, die gesamte Emotionspalette zu bedienen und den Streamenden zu gegebener Zeit zu vermitteln, wann Lucy erstmals wirklich Hoffnung schöpft, wann es ihr endlich gelingt, einmal eine andere Perspektive einzunehmen und was nötig ist, um sich eventuell selbst vergeben zu können.

«Wo die Erde bebt» ist, wie angedeutet, sicher nicht der Film, den man schauen sollte, wenn man Action erwartet oder herzhaft lachen will, sondern eher einer, dem man eine Chance geben sollte, wenn einem nach etwas anderem, etwas Ungewöhnlichem oder einfach nach großer Schauspielkunst ist.

«Wo die Erde bebt» ist auf Netflix verfügbar.
21.11.2019 09:30 Uhr  •  Florian Kaiser Kurz-URL: qmde.de/113828