5 Köpfe: Bingen oder nicht bingen, das ist hier die Frage

Disney+ wird sich bei der Veröffentlichung seiner Serien nicht von Netflix inspirieren lassen: Statt alles auf einen Schlag zu veröffentlichen, werden Episoden wöchentlich online gestellt. Fünf Quotenmeter.de-Köpfe diskutieren: Sind Binge-Veröffentlichungen besser?

Florian Kaiser
Als Disney kürzlich ankündigte, auf seinem kommenden Streamingdienst neue Serienstaffeln Folge für Folge im Wochenrhythmus veröffentlichen zu wollen, anstatt direkt alle Episoden auf einmal zur Verfügung zu stellen, war klar, dass dies den Startschuss einer leidenschaftlich auf Social Media geführten Grundsatzdebatte markieren würde. Die Fraktion, die sich für erstgenannte Release-Praxis stark machte (und noch immer macht), hätte vermutlich weit weniger Mitglieder, wenn in jüngerer Vergangenheit nicht insbesondere «Game of Thrones» oder auch «Star Trek: Discovery» gezeigt hätten, dass das Nicht-Bingen durchaus Vorteile mit sich bringt, die einige schon längst vergessen hatten oder auf die sie gar nicht gekommen wären.

«The Masked Singer» hat bekanntlich hierzulande das vermeintlich Unmögliche geschafft und das generationenübergreifende Lagerfeuer in der Nach-«Wetten, dass..?»-Ära neu entfacht, «Game of Thrones» allerdings war eine Art weltweites Lagerfeuer. Es wurde im Internet, jedoch nicht nur dort diskutiert. Auf der Arbeit, an der Uni, im Supermarkt, in der Schule, kurz: (gefühlt) überall! Vor allem diese detaillierte Auseinandersetzung mit jeder Szene, jeder Figur und jeder dramaturgischen Entscheidung wäre in diesem Ausmaß sicher nicht gegeben gewesen, wenn die gesamte Staffel innerhalb weniger Tage hätte „weggeguckt“ werden können. Wer nun aber sagt, dass sie oder er genau das will, bleibt ein überzeugter Binge-Watcher – was selbstredend vollkommen okay ist – und wartet aus diesem Grund vielleicht einfach, bis die komplette Season von beispielsweise «The Mandalorian» auf Disney+ abrufbar ist. Sonderlich Spoiler-allergisch darf sie oder er dann allerdings nicht sein – bei der „Eine Folge/Woche“-Variante hingegen besteht die Gefahr des Zu-viel-zu-früh-Wissens lediglich in einer deutlich abgeschwächteren Form.

Ich persönlich bin seit jeher ein Mensch, der die Vorfreude definitiv als die schönste Freude ansieht, und von frühsten Zeichentrick-Kindheitstagen an froh war, wenn das Wochenendprogramm noch viele Samstage und Sonntage lang neue Folgen meiner Lieblingsserie für mich bereithielt. Wenn es nicht unbedingt (aufgrund einer Kritik etwa) erforderlich ist, schaue ich daher auch heute selbst bei komplett verfügbaren Staffeln maximal zwei Folgen/Tag und nie zwei Seasons einer Serie hintereinander, weil ich nicht will, dass alles verschwimmt, weil ich das Gesehene sehr bewusst wahrnehmen, darüber nachdenken, und es wertschätzen sowie genießen können möchte – und das geht (aus meiner Sicht) besser mit Pausen.

Sidney Schering
Die Medienkultur, sie bewegt sich in Wellen: Noch vor wenigen Jahren war "Eine Woche, eine Folge" für viele Serien Standard. Dann kam Netflix und veröffentlichte seine Serienstaffel auf einen Schlag. Das war neu, das war aufregend, das hat so den Diskurs um «House of Cards», «Orange Is the New Black» und «Daredevil» angefacht. Mittlerweile bringt Netflix aber so viele Serien raus, dass die meisten völlig untergehen – und auch nach Wochen keine neuen Fans finden, weil partout kein Diskurs über sie entsteht und daher viele gar nicht erst Argumente zu hören oder zu lesen bekommen, sie anzufangen. Ausnahmen gibt es natürlich, wie etwa «Matrjoschka», doch wenn selbst ein Klickhit wie «Stranger Things», dessen ersten Staffeln den popkulturellen Diskurs für Wochen dominierten, mit Staffel drei kaum noch Wellen abseits der Fanbase schlägt, wird offensichtlich: Die Binge-Veröffentlichung hat auch ihre Nachteile.

Parallel zu dieser Erkenntnis wurde zuletzt noch einmal deutlich, welche Vorteile die zwischenzeitlich als lahm und altmodisch beschimpfte, wöchentliche Veröffentlichungsweise mit sich bringt. Es bleibt mehr Raum für Vorfreude, Diskussion und Hype-Entwicklung. Und selbst, wenn man Gefahr läuft, beim langsamen Nachholen der Folgen gespoilert zu werden, so kann einem niemand bereits wenige Stunden nach Staffelveröffentlichung das Ende verraten. Sollte Disney+ eine neue Welle an Anerkennung für das wöchentliche Modell auslösen, ist schon jetzt klar: Irgendwann wird dann wieder das Binge-Modell neu und aufregend aussehen. Wir Medienkonsumierenden lassen uns halt schnell an etwas gewöhnen … Meine persönliche Faustregel: Dramatische Serien mit übergreifendem Handlungsfaden sind gut für wöchentliche Veröffentlichungen geeignet – es sei denn, die Episoden haben gar keine eigene "Persönlichkeit" mehr und es dreht sich nur um einen zig Stunden langen, in Häppchen geteilten Film. Dann sollte man doch über das Bingen nachdenken.

Und halbstündige Comedyserien werden im deutschen Fernsehen schon aus gutem Grund meistens im Doppelpack (oder in noch größeren Dosen) versendet: Da will man was Positives, was Leichtes zum Durchatmen gucken und nach 30 Minuten ist schon Schluss? Nein, «High School Musical: The Musical: The Series» wird in wöchentlichen Episodenschüben nicht so krachen wie mit Doppelfolgen. Kurzum: Manche Serien sind zum Bingen da. Andere dazu, als wöchentlicher Termin gefeiert zu werden.

Manuel Weis
Eine ganze Staffel an einem Wochenende suchten oder doch lieber auf eine wohldosierte Portion zurückgreifen? Im Jahr 2019 sollte das jedem Serienfan selbst überlassen sein. Der eine mag’s schnell und heftig, der andere eher langsam und genüsslich. Um wirklich jedem Serienfan sein eigenes Tempo zuzugestehen, ist aber die von Netflix etablierte Praxis, sofort alle Folgen auf einen Schlag zur Verfügung zu stellen, die einzig richtige. Im Falle von Disney+, das ja den wöchentlichen Rhythmus bevorzugen wird, bliebe nur die Option, sich einen Vorrat von Episoden anzulegen, um dann wieder im eigenen Tempo vorzugehen. Das ist umständlich, mühsam und erfordert zudem Disziplin. Insofern: Alles immer her damit!

Fabian Riedner:
Netflix hat das Serien-Schauen revolutioniert! Das „Bingen“, also eine Folge nach der anderen zu konsumieren, kam mit dem kalifornischen Streaminganbieter auf. Das hat durchaus seine Vorteile, allerdings werden die Episoden nicht zum „Talk of the Town“. Wer erinnert sich noch an die achte Folge der dritten «House of Cards»-Staffel? HBO zeigte erst im Frühjahr, dass die lineare Ausstrahlung mehr Potenzial beweist. Jede Folge «Game of Thrones» wurde intensiv von den Fans besprochen.
 
Eine Studie hat schon vor langer Zeit herausgefunden, dass extremes Binge-Watching vorwiegend von Depressiven respektive Menschen mit einem kleinen oder gar keinen vorhandenen Freundeskreis betrieben wird. Überlegt man, dann ist die Studie naheliegend. Wer hat denn tatsächlich Zeit, eine Serie wie «Élite» über ein Wochenende anzuschauen?
 
Die Rückkehr zur linearen Ausstrahlung, wie es Disney+ machen möchte, kann durchaus sinnvoll sein. Allerdings sollte man hier verschiedene Mischformen anwenden. Apple möchte drei Episoden auf einen Schlag anbieten und wöchentlich neue Abenteuer hinzufügen. Damit komme man besser „in die Serienhandlung“ hinein. Ebenfalls nachvollziehbar.
 
Bei gewissen Eventserien könnte man auch ein völlig neues Konzept realisieren: Das deutsche Projekt «How to sell drugs online (fast)» war eine gute Dramedy, die auch im kommenden Jahr in die Verlängerung geht. Die Episoden an sich unterscheiden sich vom Inhalt allerdings nicht so sehr, dass man jede Woche darüber sprechen würde. Es ist eben doch ein Unterschied, ob man diese Serie veröffentlicht oder ein monumentales Werk wie «Game of Thrones». Ich könnte mir aber durchaus vorstellen, dass man alle Folgen einer Serie auf einen Schlag seinen Abonnenten zur Verfügung stellt – mit Ausnahme der Auflösung. So werden die Zuschauer über einen Zeitraum – von beispielsweise einem Monat – heiß auf das Finale gemacht. Innerhalb eines Wochenendes kann dann das letzte Kapitel verfolgt werden. Vielleicht wäre auch so die letzte Staffel von «House of Cards» noch zum Stadtgespräch geworden?

Julian Miller
Zu einer Zeit, als man von so etwas wie dem läppischen 56-k-Modem noch nicht einmal zu träumen wagte, musste man als in Europa lebender Serienfan noch regelmäßig in Amerika lebende Freunde anhauen, bitte den Mitschnitt der nächsten Folge von «Seinfeld», «Cheers», «Twin Peaks» oder auch nur «Dallas» gleich am nächsten Tag zum Luftpostzentrum zu schaffen, um die ohnehin mehrwöchige Wartezeit auf den neuen Stoff nicht noch unnötig zu verlängern. Man kam sich ein bisschen vor wie die New Yorker Literaturfanatiker, die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts in bitterer Kälte am örtlichen Hafen ausharrten, um als Erste das neue Kapitel des jeweils aktuellen Fortsetzungsromans von Charles Dickens in den Händen zu halten.

In der heutigen Welt von Instant Gratification und opulenten Streaming-Möglichkeiten ist das eine irgendwie wohlige Horrorvorstellung, die uns die Entbehrungen der steinzeitlichen Lebensverhältnisse verdeutlicht, in denen wir noch vor wenigen Jahren existieren mussten. Wie schön, dass uns Anbieter aller Kaliber ihre extrem horizontale Ware nicht mehr scheibchenweise Woche für Woche, sondern geballt auf einem Haufen liefern. Man kann nach einem der Twists in «House of Cards» eh nicht schlafen? – Weiter geht’s. Man fühlt sich nach einem Abend stundelanger Bruck-Pastewka-Wortgefechte wie ein Teil der Marienburger Wohnungseinrichtung? – Bloß nicht aufhören, wenn’s am schönsten ist. Carrie Mathison hat gerade die ranghöchste Beamtin der Berliner CIA-Station als russische Spionin enttarnt? – Sofern man sich die Folgen der Showtime-Ausstrahlung aufgespart hat, geht das Spielchen direkt weiter.

Skeptiker dieses gehobenen Bulimiefernsehens wenden nun ein, dass diese Möglichkeit des Alles-Jetzt-Sofort die Romantik am Fernsehen kaputtmache, die spinnerten Fan-Theorien, das tagelange Mitknobeln, das Adrenalin, wenn endlich die Fortsetzung ins Haus steht, das Schnacken am sprichwörtlichen Watercooler. Doch wer will, kann das ja immer noch haben. Die Junkies unter uns verzichten derweil gern auf die Entzugserscheinungen. Für uns ist’s eh zu spät.
22.09.2019 13:28 Uhr  •  Florian Kaiser, Manuel Weis, Fabian Riedner, Julian Miller, Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/112359