Popcorn und Rollenwechsel: 303 Neustarts auf der Leinwand, 303 Neustarts …

… wird einer aus dem Programm genommen: 302 Neustarts auf der Leinwand.

Das nächste Mal, wenn ich zu hören bekomme, dass ja "nur noch Superheldenfilme" im Kino laufen, schreie ich. Ich schreie so lange, bis der dummen Nuss, die mir diesen Unfug ins Gesicht sagt, die Ohren dröhnen. Im ersten Halbjahr 2019 sind 303 Filmneustarts in Deutschland angelaufen, und wer eine Superheldenallergie hatte, musste allein «Avengers || Endgame», «Captain Marvel», «Glass», «Shazam!» und «X-Men: Dark Phoenix» sowie «Hellboy – Call of Darkness» aus dem Weg gehen. Ziemlich leicht zu bewältigende Aufgabe. "Disney, Disney, überall Disney" ist eine ähnlich behämmerte Klage: Von den 303 Neustarts im ersten deutschen Kinohalbjahr 2019 stammten bloß sechs aus dem Disney-Konzern. Wer die Walt Disney Company nicht mit einem Ticketkauf unterstützen will (weshalb auch immer), hatte also 297 andere Filme zur Auswahl.

Auf die Gefahr, mich zu wiederholen: Die Auswahl ist da, schaut doch einfach hin! Unter anderem starteten im ersten Halbjahr 2019 ein deutsches Gewaltdrama, ein keusches, aber sexuell aufgeklärtes Teenie-Romantikdrama, ein wahres Feuerwerk an Schießereien und blutigen Nahkämpfen, eine Dramödie über Männer, die ihre Sinnkrise wegschwimmen, eine Romantik-Tragikomödie über schwerkranke Jugendliche, eine gesellschaftskritische Horror-Analogie, ein kunterbuntes, fantasievolles, dennoch schonungslos vom Druck des Star-Daseins handelndes Biopic-Musical, ein dialogfreier Animationsfilm über knuffige Insekten und eine skandinavische Schauermär. Und das sind allein die Kinobeiträge aus den hierzulande breiter vertretenen Kinomärken!

Was zudem oft mit den ständigen Generalisierungen "Es laufen nur noch Superhelden und Fortsetzungen" einher geht: Die Andeutung, dass "Früher alles besser war". Womit aber eigentlich nur entweder "Früher lief mehr von dem, was mich interessiert" oder "Ich erinnere mich nicht richtig" gemeint ist. Denn jede Filmepoche hat ihre Schwerpunkte, die fast zu Tode gemolken wurden und sich selbstredend in den Top Ten reflektierten. Wer keine Superhelden mag, klagt über deren Überpräsenz, und schwärmt von der Zeit, als Western oder Musicals oder leicht verdauliche, inspirierende Dramen oder Märchenfilme oder Bud Spencer deren Position einnahmen – es dreist ignorierend, dass bei dieser filmischen Zeitreise also schlicht X gegen Y ausgetauscht wurde.

Wer 2019 als "Alles Fortsetzungen und Superhelden – oder Superheldenfortsetzungen – Originalität ist tot!" runter bricht, muss 1969 auch so runter brechen … "Einer von vielen Western. «Ein toller Käfer». «Easy Rider». Kinderbuchverfilmung. Siebter Teil einer Agentenreihe. Vierter Teil einer Komödienreihe. Softcore-Sexfilm. Softcore-Sexfilm. Schmonzette über einen Star. Softcore-Sexfilm."Originell waren diese Top Ten für ihre Zeit keineswegs, und der Zahn der Zeit hat zumindest in meinen Augen an der Hälfte dieser Filme intensiv genagt. Hätte es damals das Internet gegeben, es hätte außerdem eine Vielzahl an Klagen über mangelnden Einfallsreichtum und den besorgniserregenden Erfolg von kommerziellem Mist gegeben. Aber, ja, mit Western, Komödie, Agenentenfilm, "Heinz, guck mal! Nackte Brüste!", Agentenaction, dem Genreschubladen brechenden «Easy Rider» und einer Kinderbuchverfilmung waren die Top Ten 1969 durchaus kunterbunt gemischt.

1979 ist, bricht man es ähnlich lieblos runter, wie Kulturpessimisten die heutigen Charts runter brechen, so zu beschreiben: "Schon wieder eine Franko-Komödie. Schon wieder eine Italo-Komödie. Zwölfter Teil einer Agentenreihe. Comic-Adaption. Roman-Adaption. Kriegsfilm. Horrorfilm. Schon wieder eine Italo-Komödie. Französischer Krimi. Schon wieder eine Franko-Komödie." Dass Bud Spencer, schrille französische Komödien, James Bond und die Adaption der «Blechtrommel» 1979 zu Erfolgen wurden, war 1979 so überraschend wie es dieses Jahr der Erfolg von «Fast & Furious» oder Marvel-Filmen ist. Aber heute blicken jene, die diese Erfolge nicht interessieren, auf 1979 zurück.

Dennoch: Das Publikum war einst mutiger darin, verschiedene Geschmäcker auszuprobieren als es heute ist. Es sei denn, man bricht die Top Ten heutzutage nicht auf den Status "Comic-Adaption" und "Fortsetzung" hinunter. Die Top Ten des bisherigen Jahres 2019 sind dann nämlich "Dramödie über Verlustverarbeitung", "Remake eines Musicals", "Abenteuerfilm", "Sci-Fi-Action-Komödie", "Komödie", "Abenteuer-Musical-Komödie", "Dramödie", "Detektivfilmkomödie" und "Komödie". Gut, viel Lachen dabei, aber es ist nicht mehr die karge "Alles eh gleich"-Nummer, oder?

Der Unterschied zwischen heute und "damals, als alles besser war": Dieses Jahrzehnt gab es Jahr für Jahr mehr Filmneustarts als in sonst einer Nachkriegs-Kinoepoche. Wer also mit "dem Massengeschmack der Zeit" 1969 Probleme hatte, musste sich aus den Nicht-Western und Nicht-Sexfilmchen mühseliger was zusammenklauben als es Comichasser heute tun müssten. Und dank des Internets ist es leichter denn je, sich über die Filme zu informieren, die man ansprechend findet. Kritiken und Trailer sind stets nur einen Klick entfernt, ebenso wie Programmzeiten der örtlichen Kinos. Was also muss passieren, damit das "Es läuft nichts, was mich anspricht, das war einst anders ..."-Gewimmer aufhört ..?
21.08.2019 11:48 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/111528