Liegt in kürzeren Serien-Episoden die Zukunft?

Bei einer stetig steigenden Zahl an TV-Inhalten scheint die Nachfrage nach kurzen Episoden stark anzusteigen. Zum Trend von und Argumenten für kürzere Laufzeiten.

Die neue Generation an Serienfans, sie krankt. Es flimmert die neueste Premium-Serie über die Bildschirme – etwa die neue HBO/Sky-Koproduktion «Chernobyl» (Foto) mit stolzen Laufzeiten von über einer Stunde pro Folge. Solche einstündigen HBO-Formate waren es, die das goldene Serien-Zeitalter Anfang der Nuller Jahre überhaupt erst aus der Taufe hoben und wie Kino auf dem kleinen Bildschirm wirkten. Die Qualität dieser Produktionen und vor allem die Masse an qualitativ hochwertigen Produktionen ist heute größer denn je – und trotzdem ertappen sich die Serienjunkies nach 20 Minuten unwillkürlich dabei, den Blick abzuwenden und etwa aufs Handy zu schauen, die Konzentration zu verlieren.

Die neue Generation an Serienfans krankt an einer Art Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom, erzeugt durch die Verfügbarkeit von unbegrenzten Inhalten auf einer Unmenge an Endgeräten und schierer Ohnmacht angesichts der Entscheidung, mit welchen Inhalten man denn nun seinen Tag bestreiten soll. Denn die Tage bleiben gleich lang, während die digitalen Möglichkeiten wachsen, sie zu bestreiten. Daher kann man argumentieren, dass gerade Serien mit opulenten Laufzeiten nicht mehr zeitgemäß sind, weil sie die Serienfans, die den Druck verspüren, durch die Rezeption möglichst vieler Inhalte auf dem neuesten Stand zu bleiben, einschränken und von anderen Serien fernhalten.

Nur wahre Hits können Nutzer noch über eine Stunde halten


Laufzeiten und Genres

Zwischen verschiedenen TV-Genres sollte trotz der Nachfrage nach kürzeren Episodenlaufzeiten unterschieden werden. Angesichts des Ausmaßes der Erzählungen könnten einstündige Episoden epischen Serien vorbehalten bleiben, während tiefgehende Dramen sich auf um die 30 Minuten beschränken könnten und Serien um die 15 Minuten zu leicht zugänglichen Comedy-Formaten passen.
Die einzige Ausnahme stellen tatsächlich nur die erlesenen Serien dar, die die digitalen Diskurse im Netz dominieren. Als bekannt wurde, dass die finale Staffel von «Game of Thrones» Folgen in Spielfilmlänge enthalten würde, gab es nicht etwa Kritik. Fans frohlockten stattdessen, weil keine andere Serie derzeit einen höheren sozialen Wert hat, indem sie Gespräche zwischen Gleichgesinnten dominiert wie «Game of Thrones». Doch in der „Peak TV“-Ära - diese Zeit, die gerade durch den Boom an Streaming-Anbietern einen Überfluss an Serien generiert - wird dem Zeitmanagement der Nutzer und Zuschauer mehr denn je abverlangt und Serien-Phänomene wie «Game of Thrones» werden automatisch rarer.

Die einzige Möglichkeit, so viel Fernsehen wie möglich zu sehen, liegt in dieser Zeit darin, sich nicht mit Formaten aufhalten zu müssen, die viel Zeit rauben. Streaming-Anbieter egalisierten im Grunde schon die im linearen TV etablierten Laufzeiten von 22 oder 42 Minuten, die einst für Werbetreibende installiert wurden, aber immer noch gelten. Streaming-Dienste bieten dagegen Plattformen, die sich diesen Regeln entziehen und zeigen sich auch zunehmend offen gegenüber kurzen Formaten, auch wenn der Umschwung langsam erfolgt. Doch auch bei Serienschaffenden, denen die klassischen Episodenlaufzeiten eingeimpft wurden, muss erst ein Umdenken stattfinden. Häufig werden selbst Serienepisoden bei Diensten wie Netflix noch unnötig in die Länge gezogen, dabei ist es längst möglich, sehenswerte, ausgewogene, vielsagende und reichhaltige Episoden in kurzer Zeit zu erzählen.

Die Akzeptanz für Kurzformate wächst


Kurzformate in Deutschland

Auch in Deutschland wird man auf den Trend hin zu kürzeren Serienepisoden und Formaten aufmerksam. Wie Katja Hofem, die Chefin der neuen deutschen Streaming-Plattform joyn von ProSiebenSat.1 und Discovery, verriet, sollen im kommenden Jahr einige Serien aus dem Shortform-Segment beim neuen Angebot erscheinen.
Die Beispiele dafür häufen sich. Viele Comedy-Serien laufen ohnehin bereits nur über 22 Minuten, mittlerweile überschreiten einige Formate aber nicht einmal mehr die 20-Minuten-Marke. Langsam öffnen sich Dienste wie Netflix gegenüber dieser Möglichkeit, obwohl gerade der US-Konzern noch lange Zeit fürchtete, mit diesem Schritt nähere man sich zu sehr Videoplattformen wie YouTube und verliere damit sein Alleinstellungsmerkmal. Anfang 2018 veröffentlichte Netflix eine neue Serie mit nur 15-minütigen Comedy-Specials, zuletzt ließ der Dienst den Machern der Cartoon-Anthologie «Love, Death & Robots» oder der Comedy-Serie «Bonding» recht freie Hand in Sachen Episodenlaufzeit, die sich letztlich in den meisten Fällen auf unter 20 Minuten beliefen.

Trotzdem gelten diese Art von Serien noch als exotisch, weshalb die von Nick Hornby geschriebene Serie «State of the Union», die Anfang Mai beim kleinen US-Sender Sundance TV startete, ungewöhnlich viel Aufmerksamkeit erhielt – auch aus dem Grund, weil es sich um zehn zehn-minütige Folgen handelte. Differenziert werden sollte auch hier zwischen Comedies und Dramen. Letztere benötigen aufgrund ihrer Tiefe schlicht mehr Zeit, weshalb bereits 30 Minuten dort als Kurzform angesehen werden können. Das gelang gut besprochenen Serien wie «Looking», «Homecoming» oder «Matrjoschka». Diese Ausnahmen werden aber noch längst nicht der Nachfrage an Kurzformaten gerecht, die längst ungemein hoch ist.

Respekt gegenüber Zeitbudgets und Sehgewohnheiten


Dabei bietet diese Nachfrage Kreativen viele neue Freiheiten, denn die Regel, dass Dramen eine Stunde und Comedy-Serien eine halbe Stunde im Fernsehen laufen müssen, hat die Möglichkeiten schon immer stark limitiert. Auf der anderen Seite sollten sich TV-Schaffende mittlerweile vorsehen, zu ausufernd zu erzählen. Eine anderes Extrem stellt das gerade bei Amazon erschienene «Too Old to Die Young» (Foto) von Nicolas Winding Refn dar. Der Däne legte die Serie nach eigener Aussage als 13-stündigen Film an. Nach zwei langatmigen Folgen stöhnten die Kritiker, die die Folgen vorab sehen durften, bereits entnervt auf. Schon bald könnten sich vor allem Streaming-Nutzer selbst immer weiter von Fernsehserien entfremden, die für das klassische Fernsehen geschrieben wurden und daher auch an den klassischen Laufzeiten festhalten.

Fans der klassischen Formate könnten nun entgegnen, dass das Risiko besteht, Episoden könnten zu kurz oder gehetzt wirken. In einer Zeit, in der die Watchlist stetig wächst und neue Formate aus allen Ecken als Must-See-TV angekündigt werden, wenn ohnehin schon eine Fantastillion an Sendeminuten aufzuholen ist, sind Serienfans jedoch dankbar, wenn Produktionsteams die große Herausforderung meistern, Serien kurzweilig und erzählerisch ökonomisch wie dicht zu halten. Die Gegebenheiten unserer digitalen Welt lassen angesichts der Sehgewohnheiten, insbesondere denen der „Digital Natives“, häufig gar nichts mehr anderes zu. Zwar sollten sich Serienschaffende weiter die Zeit nehmen, die sie brauchen, um eine einnehmende Geschichte zu erzählen, dabei aber jede Minute zählen lassen und das Zeitbudget der Nutzer noch mehr respektieren.
23.06.2019 11:07 Uhr  •  Timo Nöthling Kurz-URL: qmde.de/110218