Die glorreichen 6 – Filme zur Lage der Nation (Teil V)

Denken wir an Deutschland in der Nacht, sind wir um den Schlaf gebracht: Unsere Filmredaktion hat sechs Produktionen ausgesucht, die Bände über den Geisteszustand der Bundesrepublik sprechen. Heute: «Heil».

Die Handlung


Filmfacts: «Heil»

  • Regie, Musik und Drehbuch: Dietrich Brüggemann
  • Produktion: Michael Lehmann, Katrin Goetter
  • Darsteller: Benno Fürmann, Jacob Matschenz, Liv Lisa Fries, Oliver Bröcker, Daniel Zillmann, Jerry Hoffmann, Anna Brüggemann, Jerry Hoffmann, Heinz Rudolf Kunze und viele, viele mehr
  • Kamera: Alexander Sass
  • Schnitt: Vincent Assmann
  • Veröffentlichungsjahr: 2015
  • Laufzeit: 103 Minuten
  • FSK: ab 12 Jahren
Deutschland, Gegenwart: Der Schriftsteller Sebastian Klein zählt dank seines aktuellen Bestsellers, in dem er seine Erfahrungen als Deutscher mit einem afrikanischen Elternteil beschreibt, zu den berühmtesten Autoren des Landes. Regelmäßig erhält er Fanbriefe, was seiner eifersüchtigen sowie schwangeren Freundin Nina jedoch schwer zusetzt. Insbesondere da sie von der ständigen Angst verfolgt wird, er könnte von seiner Ex Stella Gustafsson zurückerobert werden … Aber es kommt ganz anders – und viel schlimmer! Auch wenn selbst Nina den Ernst der Lage nicht schnell genug erkennt … Sebastian wird während seines Besuchs der kleinen Stadt Prittwitz, einem Brennpunkt der rechten Szene, von Neonazis entführt. Und aufgrund eines heftigen Schlags auf den Kopf wird er zur willenlosen, menschlichen Sockenpuppe und plappert munter nach, was man ihm sagt …

Das nutzt Sven, der Anführer einer nationalistischen Partei, der sich im Wettstreit mit anderen rechten Gruppen bislang im Hintertreffen sieht und daher dringend ein Erfolgserlebnis braucht, mit Freude aus: Er flößt Sebastian Klein braunes Gedankengut ein, mit dem er von Talkshow zu Talkshow tingelt, wo er für seine "mutigen Aussagen, die man ja mal sagen muss" frenetischen Applaus erntet. Und diejenigen, die ihn nicht bejubeln, streiten sich darüber, wie man ihn kritisieren sollte. Oder sie reden so geschwollen, dass ihnen niemand folgen kann. Und die öffentlich-rechtlichen Medien? Die könnten sich nicht weniger für die Berichte des einzigen freien Journalisten interessieren, der dieser Sache auf der Spur ist. Und der Verfassungsschutz? Buahahaha. Guter Witz …



Die glorreichen Aspekte


Herbst 2018: Die drittstärkste Fraktion im Deutschen Bundestag besteht unter anderem aus Menschen, die den Aufklärungsunterricht in der Schule wieder kippen wollen, die Toleranz als ideologisch motivierte Bevormundungspolitik erachten, den Waffenbesitz vereinfachen möchten und die einen Schießbefehl gegen Flüchtlinge fordern. Die Rede ist von der AfD, die versucht, ihre Hasspolitik damit schönzureden, dass ja auch Juden in der Partei sind. Feigenblatttaktik, die historische Vorgänger hat. Und eine, die bereits 2015 in etwas anderer Form als einer der zentralen Storymechanismen von Dietrich Brüggemanns «Heil» herhielt.

In Brüggemanns irrwitzigem, gepfeffertem Generalumschlag zum Thema "Deutschland ist auf dem rechten Auge weitestgehend blind, und die, die nicht blind sind, stellen sich im Kampf gegen rechts gegenseitig Steine in den Weg" nimmt sich ein rechter Politiker ein nicht-weißes Sprachrohr – und schon beginnt das Elend. Der frühere Toleranz-Autor, der nun den immer selben rechten Sermon von sich gibt, wird von Talkshow zu Talkshow gereicht, wo er seine Phrasen wiederholen darf. Andere Parteien schielen neidisch auf die Aufmerksamkeit des "Ausländers", der sich traut, "unbefangen" über andere "Ausländer" zu sagen, was über sie gesagt werden "muss". Und wer sich traut, den Sinn seiner Aussagen zu hinterfragen, fängt sich sogleich von allen Seiten des politischen Spektrums Kritik ein. Etwa, weil ein weißer Mann einem Nicht-Weißen doch nicht vorschreiben dürfe, wie er über Integrationspolitik zu denken hat …

So zieht es sich durch das gesamte, fiebrige Komödienerlebnis, das Brüggemann mit «Heil» geschaffen hat: Der Autor und Regisseur reiht kopfschüttelnd eine Feststellung über den Kultur- sowie Politzirkus Deutschland an die nächste, und schafft so ein eng geknüpftes Netz aus kleinen Ärgernissen und großen Problemen, die so zu einer erschreckenden Gesamtsituation werden – was Brüggemann jedoch mit dem halsbrecherischen Tempo und der hibbeligen Attitüde einer frenetischen Blödelkomödie anpackt. Das macht Brüggemanns Zusammenstellung von Fehlverhalten-Anekdoten und bedeutungsvollen Alltagsbeobachtungen zugänglicher – wodurch sich seine Aussagen stärker einbrennen als in einem trocken-belehrenden Film. Die diversen Talkshow-Nachstellungen in «Heil» scheinen wie aus einer politsatirischen Neuauflage von «switch reloaded» entflohen – doch gerade dadurch wird erst so richtig deutlich, wie frustriert Brüggemann von der grassierenden Unfähigkeit im Umgang mit rechts ist. Ein spröde-seriöser Film darüber könnte das kaum mit derselben Feuerkraft einfangen.

«Heil» sucht die Wurzel gesellschaftlicher Umstände zu großen Teilen, aber noch lange nicht allein bei den rechten Aggressoren, sondern überall – und dazu passt der laute, wilde, wahnhafte Komödienstil, denn wenn überall Patzer, Pannen und Peinlichkeiten lauern, hat das schlichtweg etwas von einem Ausflug ins Absurditätenkabinett. Brüggemann zelebriert dies auf stilistischer sowie narrativer Ebene und lässt mehrmals die eigentliche Handlung des Films aussetzen, um eine sketchartige Szene über ein Puzzleteil des deutschen gesellschaftlichen Diskurses zu zeigen, ehe dieser in die richtige Story übergeht. Da zeigt Brüggemann auch mal, rein von der Absurdität deutscher Kunstbühnem fasziniert, ein prätentiöses Bühnenstück über die NS-Zeit, bevor dieses die Weichen für einen Storyfaden legt. Manchmal muss man halt auch keine Haltungskritik üben, sondern kann auch schlicht Spaß an der Skurrilität deutscher Befassung mit deutscher Historie haben.

Eine Vielzahl der Beobachtungen, die Brüggemann in «Heil» macht, deuten jedoch auf politische und gesellschaftliche Baustellen unterschiedlicher Größe hin. Die Vielzahl an Baustellen, die diese irre Satire ansteuert, mag überwältigend wirken, weshalb manche ihr Fahrigkeit vorwerfen. Aber bedauerlicherweise ist das Chaos in «Heil» notwendig: Dadurch, dass Brüggemann unter anderem auf schlechte Polittalks eingeht, auf sensationsgeile Journalisten und auf Security-Firmen, die der rechten Szene nahestehen, aber auch auf dumm-naive Bürger oder paranoide Tendenzen der Antifa, unterstreicht Brüggemann, wie groß die Spannbreite an Mechanismen ist, die Intoleranz und rechten Hass direkt oder indirekt fördern, und dass der Kampf gegen diese Probleme kein Sonntagsspaziergang, sondern ein Großprojekt darstellt.

Auch deswegen muss «Heil» als süffisante, aufgekratzte Komödie daherkommen – man stelle sich ein ernstes, geradliniges Drama vor, dass dem Publikum zu erklären versucht, dass eigentlich an mehreren Hundert Stellschrauben gedreht werden müsste. Kaum jemand würde sich dieser Gesellschaftskritik stellen wollen. Um eben nicht so panisch rüberzukommen wie Brüggemanns Filmversion der Antifa, die in jedem, der ihr Widerworte gibt sogleich einen Nazi sieht, muss die erschreckende Erkenntnis mit einem Gag-Geschwader geliefert werden.

Dank eines unvergleichlichen Casts, zu dem unter anderem Jerry Hoffmann, Lavinia Wilson, Liv Lisa Fries, Daniel Zillmann, Benno Fürmann und Andreas Dresen gehört, der den außergewöhnlichen Tonfall des Films mühelos meistert, gelingt Brüggemanns Vorhaben auf hervorragende Weise: Ein gigantisches, illustres Figurenkabinett knallt eine wütende, offensichtliche, aber gerade daher auch so absurd-komische und wichtige Botschaft heraus – in grellen Farben und scharf-witziger, beißend-satirischer Tonart. Wissend, dass viele eh nur wieder weghören werden. Umso wichtiger, drauf los zu kloppen, denn wenn auch nur ein Drittel von «Heil» hängen bleibt und Augen öffnet für einen bewussteren Umgang mit eklatanten sowie unzähligen kleinen, sich aber kulminierenden Missständen … Ja, dann ist auch schon viel gewonnen. Denn wir können uns nicht darauf verlassen, dass sich die Rechten selbst demontieren.

«Heil» ist auf DVD erhältlich sowie via Amazon, maxdome, iTunes, Google Play, Videobuster, Microsoft, videociety, Rakuten TV, freenet Video, Sony und Chili abrufbar.
21.10.2018 14:05 Uhr  •  Sidney Schering Kurz-URL: qmde.de/104629