«Alles oder Nichts»: Kein Platz für Romantik

Es ist die Daily Soap mit der ungewöhnlichsten Exposition: Nach dem Tod von Unternehmer Axel Brock kommt heraus, dass dieser drei uneheliche Kinder hat. Sie erben jetzt nicht nur, sondern mischen den Brock-Clan gewaltig auf. Hier prallen Arm und sehr Arm auf Reich und sehr Reich. Das bietet massig Fläche für Konflike - «Alles oder Nichts» ist quasi die Antithese zu früheren Sat.1-Dailys wie «Schmetterlinge im Bauch» oder «Hand aufs Herz».

Es ist zweifelsfrei ein mutiges Unterfangen: Sat.1 hat wieder eine tägliche Serie. Über fünf Jahre nach «Patchwork Family» und drei Jahre nach dem zweiwöchigen Intermezzo von «Mila» schlägt mit «Alles oder Nichts» die vierte Daily aus dem Hause Producers at Work auf. Einmal hat die Firma bereits bewiesen, dass die den Geschmack des Publikums treffen kann. Bei «Anna und die Liebe», das mit weit über 900 Folgen die bis heute am längsten laufende Sat.1-Daily ist. Zwei Mal, beim ersten Versuch «Schmetterlinge im Bauch» und bei «Hand aufs Herz», überwogen letztlich die Ungereimtheiten, nach jeweils einigen Monaten verschwanden die Projekte wieder in der Versenkung.

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Mit einer anderen Grundausrichtung und einer fraglos frischen Idee, die den 2018er Zeitgeist des deutschen Fernsehens trifft, hat sich die Firma im Frühjahr gegen gleich drei Vorschläge von UFA Serial Drama («Verliebt in Berlin») durchgesetzt. Die Ausgangssituation der insgesamt 18 zum Haupt-Cast gehörenden Figuren ist einfach und fast jedem bekannt. Es geht um das liebe Geld. Da kennt man eben keine Freunde, vor allem nicht, wenn es etwas zu erben gilt. Mit dem Einstieg ist Producers at Work jetzt schon der ungewöhnlichste Beginn einer deutschen Daily aller Zeiten gelungen. Es ist mal kein Umzug in eine neue Stadt, keine neue Stelle, die es anzutreten gilt. Stattdessen stürzt ein schwer reicher Millionär, der aber wohl in irgendwelche krummen Dinger verwickelt war, mit einem Jet ins Meer und ist – zumindest soweit man das bei Daily-Soaps wirklich mit Bestimmtheit sagen kann – tot.

Soweit, so tragisch. Zur Trauer, die die Brock-Familie und das komplette Bau-Imperium damit erfüllt, kommt noch eine faustdicke Überraschung. Das Testament lüftet Axels bestgehütetes Geheimnis. Der vermeintliche Vater zweier Kinder hat in Wahrheit drei weitere uneheliche Kinder, die allesamt überhaupt nicht reich sind. Das bringt ein ungewöhnliches Kontrastprogramm ins Rollen. Plötzlich schnuppern also der Obdachlose Daniel, die herzensgute aber nicht ganz so helle Anja und Putzfrau Jenni die Luft des großen Reichtums.

Jeder der Figuren offenbart sich durch ihren Pflichtanteil eine neue Chance. Da wäre Jenni, die ernsthaft Interesse an Geschäften hat – und ganz offenbar auch an Axels bisherigem Assistenten. Da wäre Pegeltrinker Daniel Wagner (man erkennt ihn nicht so leicht, aber es ist Ex-«GZSZ»-Star Raphael Vogt), dem Kohle und Stimmrechte total gleichgültig sind. Und da wäre Stripperin Anja, die von einem besseren Leben und endlich einem Kind träumt. Das viele Geld könnte ihr all diese Träume wohl erfüllen. Dann taucht aber noch eine vierte (überdrehte) Persönlichkeit auf: Ex-«Topmodel»-Kandidaten Taynara Wolf würde für ein IT-Girl gecastet, das behauptet, ebenfalls erbberechtigt zu sein….

Und ist es, als ob schon in den ersten Episoden zwei Welten mit voller Wucht aufeinander treffen. Die einen fühlen sich von den bis dato Unbekannten in ihrer Existenz und ihrem Reichtum bedroht, die anderen sind gutherzig und wollen etwas abgeben. Wie aktuell und brisant diese Thematik ist, lässt sich schon an diesen Sätzen ablesen. Was in «Alles oder Nichts» im Kleinen ist, passiert in unserer Bundesrepublik im Großen. Genau das dürfte auch der Grund sein, warum Formate mit dem Culture Clash Arm gegen Reich zur Zeit im Fernsehen einen wahren Hype erleben.

Selten waren die Fronten in einer deutschen Daily schon nach wenigen Minuten so verhärtet wie man es sich bei beim Sat.1-Neustart traut. Man muss den Machern attestieren, dass sie aus früheren Fehlern offenbar gelernt haben. Als eines der größten Probleme vergangener erfolgsloser Sat.1-Dailys konnte eine gewisse Belanglosigkeit und ein strikter Aufbau nach Schema F festgemacht werden. Die große Konfliktwelt, gepaart mit echter krimineller Energie, wurde zuletzt gescheut. Stattdessen wurde dem Publikum mit Alltagssorgen gespickte Feel-Good-Kost serviert. «Mila» etwa war die typische Sat.1-RomCom am Dienstagabend in täglicher Dosis.

Doch nicht nur die generelle Thematik und der Aufbau mit unendlich vielen Intrigen dürfte Sat.1 überzeugt haben. Producers at Work geht storytechnisch an einigen entscheidenden Stellen neue Wege: Etwa bei Schüler Jascha, Sohn des verstorbenen Axel und von Witwe Melissa Brock. Gacastet wurde für diese zentraler als auf den ersten Blick vermutet angelegte Rolle der Newcomer Anno Kaspar Friedrich von Heimburg, der sich als wirklicher Glücksgriff entpuppt. Die Macher stellen seine Figur, laut Buch 17 Jahre jung, als Antagonisten gegen die neuen Geschwister auf. Sie erklären Jaschas klar assoziales Verhalten mit fehlender Empathie und der Tatsache, dass er sein Leben lang mit Geld zugeschüttet wurde. Es wäre jetzt ein Einfaches gewesen, aus Jascha einen wirklich ekelhaften und stereotypen Rotzlöffel zu machen. Stattdessen haben die Schreiber um Chef-Autor Jan Friedhoff den Schüler mit ganz feinem Humor versehen. Das ist ein Spagat, der in deutschen Dailys zuletzt vielleicht in «Anna und die Liebe» und beim von Lee Rychter verkörperten Anwalt David Darcy ähnlich gut funktionierte.

Jascha ist nur ein Beispiel für die hervorragende Anlage von Figuren. Im Verlaufe der ersten Monate wird den Zuschauer dem Vernehmen nach viel mehr Vielschichtiges erwarten. Etwa auf das Auftauchen des wirklich tiefbösen Boris, dem Ex-Freund von Witwe Melissa. Sie hatte ihn damals ins Gefängnis gebracht und somit maßgeblichen Anteil, dass er nun noch mehr im kriminellen Sumpf steckt. Dass er im Knast Tag für Tag Rache geschworen hat, lässt freilich nichts Gutes erahnen. Oder man nimmt Olaf Brock, Bruder des verstorbenen Axel, der jetzt endlich die Chance sieht, die neue Nummer eins der Firma zu werden, nachdem er doch jahrelang klein gehalten wurde. Bei genauerem Hinsehen wird allerdings klar, dass es vielmehr dessen Frau Bea (wunderbar: Niki Finger) ist, die die Karriere gehörig pushen will. In den ersten Episoden schmieden beide ihre intriganten Pläne auf dem Rücksitz einer durch Berlin fahrenden Limousine – und ein Hauch «House of Cards» weht da schon mit. Geht noch mehr Lob für das generelle Figuren-Konstrukt?

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Ohne Frage: Der Tod von Axel, das Erbe, die dadurch entstehenden Eruptionen innerhalb der Bau-Firma und eine sich anbahnende Love-Story zwischen Jenni und Tarek – das sind zu Beginn die klar dominierenden Themen. Anders als bei klassischen Soaps, die von Beginn an auf vielschichtige Storys setzen, wird in «Alles oder Nichts» anfangs eher wie in High-End-Serien erzählt. Sat.1 setzt hier also auf einen Stil, der sich zuletzt unter anderem im Streaming-Bereich etabliert hat. Weil der zu Grunde liegende Konflikt aber so klar ist – und in jeder Folge auch immer wieder kurze Erklärsequenzen eingebaut sind – ist sichergestellt, dass Fans auch mal eine Folge verpassen können.

Schließen will Sat.1 mit dem Neustart auch die Lücke, die die einstige Glamour-Soap «Verbotene Liebe» hinterlassen hat. Seitdem gab es kein Format mehr, das zum Blick hinter die Kulissen der Reichen und Schönen eingeladen hat . Eine zweifelsfrei faszinierende Welt, die zugleich aber auch eine echte Herausforderung für die Setbauer ist. Auch in den Kulissen machen sich die – streng genommen vier Welten – mehr als deutlich bemerkbar. Da wäre etwa das bisherige Zuhause von Jenni. In vergilbtem Weiß gestrichen, mit gefliestem Wohnzimmertisch und schlichten Metallschrank samt sich stapelndem Pfand. Die Neumanns müssen aber auf das Geld schauen, die gemeinsam betriebene Imbiss-Bude wirft nicht allzu viel ab. Diese steht nahe einer U-Bahn-Station, an einem belebten Fleckchen Berlins und ist wohl das Set der Serie mit dem größten Haken.

Die dort spielenden Szenen werden nicht On Location, sondern ebenfalls im Studio hergestellt – und das ist spürbar. Zu loben ist fraglos der enorme Einsatz von zahlreichen Komparsen, doch im Vergleich zu den sonst sehr hochwertigen Kulissen fällt dieses Set in Sachen Glaubwürdigkeit ab – zudem darf die Frage gestattet sein: Wer wollte die Wände dort wirklich in grün streichen?

Quasi zwischen Arm und Reich angesiedelt ist eine neue „Hipster-WG“, in die Jenni recht schnell ziehen kann. Backsteine an den Wänden, Basilikum am Herd. Groß und geräumig kommt das neue Zuhause der eigentlichen Hauptfigur des Formats daher. Prunkstück der Studios sind aber zweifelsfrei die Sets im „Brock Tower“. So etwas hat bisher wohl noch keine Daily-Soap gesehen. Selbst das bisher als führend geltende Mauerwerk-Set von «GZSZ» oder die Wellness-Anlage im Steinkamp-Zentrum kann hier einpacken. Groß, geräumig, hell und voller Schauwerte bildet etwa das Wohnzimmer der Familie den maximalen Kontrast zu den sonstigen Wohnungen – und auch die Büro-Welt des Towers (echter Hingucker: Die Wandbeleuchtung/Deko hinter Melissas Schreibtisch) ist imposant und edel.

Genauso, wie den drei der Brock-Dynastie bisher unbekannten Erben, nun unbegrenzte Möglichkeiten offen stehen, haben die kreativen Köpfe der Serie eine Welt geschaffen, die den Grundstein für eine Fülle guter Ideen liefert. Langfristig betrachtet, wird sich die Ausgangssituation des überraschenden Todes natürlich auflösen. Genau wie man eine Liebesgeschichte in klassischen Telenovelas nicht über Jahre erzählen kann, wird auch «Alles oder Nichts» mit der Zeit neue Impulse benötigen. Wenn die Serie denn soweit kommt.

Nur der Qualität nach betrachtet, steigt das Format im deutschen Soap-Ranking mindestens auf Platz zwei ein - zumindest mit Blick auf die Auftaktfolgen. Der weitere Verlauf der Serie lässt sich schwer einschätzen. Erste Einblicke auf Bilder und Story - Stichwort: Brock-Würstchen - lassen ein Absinken der Qualität befürchten. Das wird sich zeigen. Doch ohnehin - Qualität alleine ist keine Garantie für einen letztlichen Erfolg nach Zuschauerzahlen. Andere Faktoren spielen da mit hinein: Der letzte Soap-Erfolg von Sat.1 ist lange her; seitdem wurden die gestarteten Versuche sehr schnell wieder beendet. Wie verprellt fühlen sich noch einstige Fans von «Mila»? Was ist aus all denen geworden, die damals bei «Verliebt in Berlin» Tag für Tag mitfieberten? Geben sie einer neuen Daily eine Chance? Die Zielgruppe für das Format ist, das belegen die eindrucksvollen Zahlen der RTL II-Dailys und von «GZSZ», jedenfalls en masse vorhanden. Nur lässt sich diese Zielgruppe heute deutlich seltener auf ein neues Format ein als noch früher.

Betrachtet man alle Dailys Soaps, die zur Zeit laufen, dann ist «Köln 50667» mit inzwischen fast 1475 Episoden die jüngste Langlaufende – RTLs Neustart «Freundinnen», der wegen niedriger Quoten ohnehin wackelt, mal ausgenommen. Kurzum: Ein Quotenerfolg ist alles andere als gewiss. Der Vielfalt und Qualität würde es aber gut tun, würde Sat.1 im Falle eines schleppenden Starts auch um die Ecke denken. Denn anstelle einer schnellen Überarbeitung der Soap könnte auch ein besseres Programmumfeld helfen. Ob das Feel-Good-Magazin «Endlich Feierabend» und das sich in Richtung Overkill bewegende «Genial Daneben» wirklich ein gutes Lead-In und Lead-Out sind, ist fraglich. Besser würde um 18 Uhr eigentlich eine zweite Soap passen – und ohne die Zuschauer direkt mit zu vielen neuen Geschichten überfordern zu wollen, lässt sich feststellen: Da gab es ja noch drei Konzepte von der UFA…

«Alles oder Nichts» läuft ab sofort von Montag bis Freitag um 18.30 Uhr in Sat.1
22.10.2018 10:53 Uhr  •  Manuel Weis Kurz-URL: qmde.de/104523